Der Kala Patthar ist eine unbedeutende Graterhebung, 5500 Meter hoch und westlich des Mount Everest, bietet aber einen prachtvollen Ausblick auf den Berg der Berge und seine Trabanten. Darum keuchen und kriechen in den Haupttrekkingzeiten Frühjahr und Herbst Hundertschaften von Touristen aus aller Herren Ländern auf dem einfachen Weg zum Gipfel. Einmal muss man ja den Everest gesehen und ihn hundert Mal fotografiert haben. 1978 bin ich da schon einmal hinaufgespurtet. Damals mussten wir beweisen, in welch guter Form wir waren – wir wollten ja zum wirklichen Endpunkt. Nach der Jahrtausendwende war ich noch einmal oben, noch immer war mein Tempo ganz ordentlich.
Im Dezember wanderte ich – möglicherweise zum Abschied, wie ich dachte – noch einmal durch die Everest-Region. Im Dezember sind die Touristenströme ausgetrocknet, nur wenige junge Freaks und einige mittleren Alters begegneten uns. Die Luft war kalt und von kristallener Klarheit. Allein, diese Luft erschien mir dünner als in vergangenen Zeiten, für die einzelnen Tagesetappen brauchte ich mindestens die in den Guidebooks angegebene Zeit. Früher schafften wir dieselben Strecken in der Hälfte der Zeit. Die beiden Träger mokierten sich nicht über mein Schneckentempo, schliesslich wurden dadurch die Etappen kürzer, die Rasten länger und die Traglasten waren leicht. Immer wieder hatte ich Pausen einzulegen, die Wege waren steiler und länger als in der Erinnerung und die Kälte schneidender als vor zwanzig Jahren. Passagen aus dem Farewell Speech von William Osler, gehalten zu Beginn des letzten Jahrhunderts an der Johns Hopkins University, gingen mir durch den Kopf. Osler ist einer der Urväter der Inneren Medizin: «Human creativity peaks at 40, and men over 60 are so useless they ought to be offered a peaceful departure by chloroform.» Ich fand mich also mit 70 ziemlich unnütz, dachte zwar nicht an Chloroform oder Pentobarbital, aber zumindest ans Sitzenbleiben und daran, dass dies wohl meine letzte Wanderung im Himalaja sein würde. Alte Männer gehören nicht ins hohe Gebirge, und zwar ganz speziell nicht im Winter. Oder wie Cormac McCarthy das formulieren würde: «Kein Land für alte Männer.» Dann ging ich weiter und versuchte, durch bewusstes und tieferes Atmen meine Leistung zu verbessern.
Irgendwann erreichte ich mein Ziel und sah den Weg, über den wir vor 35 Jahren auf den Mount Everest gestürmt waren. Die vielen Freunde, die inzwischen den Weg in das unbekannte Land angetreten hatten, gingen mir durch den Kopf. Und da war ich dann doch ganz froh, noch einfach so unnütz dasitzen zu dürfen.
Als ich wieder daheim angekommen war, konsultierte ich einen befreundeten Lungenspezialisten und berichtete ihm von meiner Sorge, dass der jahrzehntelange Missbrauch des eigenen Körpers in dünner Luft nicht nur das Gehirn, sondern auch Lunge und Kreislauf beschädigt habe. Thomas beruhigte mich nach einer sorgfältigen Untersuchung: Ich hätte ein Asthma entwickelt, das mit einer Inhalationstherapie gut behandelbar sei. Das mache ich jetzt und atme wieder frei. Meine nächste Reise in den Himalaja habe ich bereits gebucht.
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.