Vor 22 Jahren wählte mich der Stadtrat von Zürich zum Chefarzt am Triemlispital. Dies war mein persönlicher Mount Everest in der Medizin, mein Maximalbonus, und ich war entsprechend glücklich und stolz. Schliesslich war der Aufstieg kein Spaziergang gewesen. Der Haifischteich der ehrgeizigen Mediziner unterscheidet sich wohl kaum von jenem der Banker und Politiker. Es waren denn auch nicht alle so glücklich über meine Wahl wie ich selbst.
Besonders unglücklich war offensichtlich mein Vorgänger, der eine andere Erbfolge vorgesehen hatte. Nach kurzem gegenseitigem Abtasten erfolgte der Gegenangriff: In bis zu 15 Seiten langen Briefen an den Stadtrat begründete der Professor, dass ich das Amt nicht antreten könne, da ich wegen wiederholten extremen Höhenaufenthaltes mit entsprechendem Sauerstoffmangel unter einem Gehirnschaden litte. Dies begründete er auch aufgrund meiner wissenschaftlichen Arbeiten, die ich in erstklassigen Journalen veröffentlicht hatte. Er riet mir, mich neuropsychologisch beurteilen zu lassen und mich vorsorglich bei der Invalidenversicherung anzumelden.
Manche haben damals zustimmend genickt, und vielleicht nicken einige Leser auch heute. Schliesslich geht der Brunnen zum Krug, bis er bricht, und ich hatte ja meine Grenzen gelegentlich etwas zu dehnen versucht. Nun aber drohte das endgültige Scheitern, mein Traumziel schien zu entgleiten. Solch ein Schock blockiert, die Selbstzweifel wachsen, die Handlungsfähigkeit fehlt. Für ein bis zwei Wochen war ich unfähig zu reagieren, medizinisch nennt man das eine reaktive Depression. Wahrscheinlich ist das der Zustand, in dem sich heute viele Bankangestellte und andere Abgebaute befinden.
Da rief mich mein Freund Diego, Bergführer und heutiger Staatsrat aus dem Wallis, an, die Matterhorn-Nordwand sei in gutem Zustand, ob ich Lust hätte. Sie ist eine der grossen Alpenwände, seit meinem 16. Lebensjahr war ich um sie herumgeschlichen, hatte mich aber nie getraut, sie zu versuchen. Sie war ein Unmöglich aus Stein und Eis. Nun aber getraute ich mich. Am nächsten Tag stiegen wir auf den Frontzacken der Steigeisen durch die Wand, zwischen unseren Beinen ein sich weitender Abgrund und alle Gedanken einzig auf die nächste Bewegung und das Überleben gerichtet. Ich vergass, dass ich einen Hirnschaden hatte. Auf dem Gipfel war ich frei, meine Depression war im Tun verflogen. Am nächsten Tag verfasste ich einen Brief, der den Stadtrat überzeugte, mich trotz Sperrfeuer anzustellen.
Nach harten Schlägen kann man liegen bleiben, resignieren oder lange zögern, befreiend ist nur das Tun. Erhard Loretan führte Drogenabhängige durch die Eiger-Nordwand, sie waren danach clean. Hamlet wurde frei, als er seinen Onkel, den Mörder seines Vaters, erstach. Edurne Pasaban überwand ihre schwere Depression, die mit zwei Suizidversuchen verbunden war, indem sie als erste Frau alle 14 Achttausender bestieg.
Wen heute eine Krise oder ein blockierender Schock befällt: Es muss nicht die Nordwand von Eiger, Matterhorn oder das Erstechen des Onkels sein. Wie wäre es, mit einem Schweizer Bergführer auf einen Viertausender zu steigen? Oder zunächst täglich vier Stunden zu laufen – um den Walensee, im Appenzellischen oder im Jura? Und dann ein Marathon? Nach 42 Kilometern sind alle Blockaden gelöst, nur die Muskulatur schmerzt noch.
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemlispital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.