«Having a life-threatening disease is fascinating because it plunges you into a new existential world», schrieb die 42-jährige Anna Donald in ihrem Blog, bevor sie an Brustkrebs starb (blogs.bmj.com/category/from-the-other-side). Die exakte Wissenschaftlerin verarbeitete gerade wegen ihrer Gelassenheit – «my liver looked like a Jackson Pollock painting» – emotional berührend ihr Sterben durch alle Tiefen von Chemotherapie, irrationale Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Es brach ihr das Herz, nicht mit ihrem Mann alt werden zu dürfen. Das Privileg, nicht mehr auf laute Partys gehen zu müssen und dem Hamsterrad entkommen zu sein, tröstete sie dagegen. Der 48-jährige Christoph Schlingensief ist einfach wütend und traurig über sein nahes Ende, er hat Kraft für ultimative Inszenierungen und hetzt durch Afrika, um irgendwo noch ein Opernhaus zu bauen und sich ein weiteres Denkmal zu setzen.
Er hört Mozarts Requiem, schreit «Kacke, Kacke, Kacke!» und entdeckt in der neuen existenziellen Welt, dass das Normalste das Schönste ist. «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!» lautet der Titel seines Buches. Und dann geht er zur nächsten Chemotherapie, wie Anna das auch tat. Ebenso werden die himmlischen Mächte angerufen, ähnlich wie die Evidenzologin Anna – Spezialistin für Evidence-Based Medicine – alternative Therapien versuchte.
Verzweifelte greifen nach jedem Strohhalm, sogar hochintelligente Patienten wollen sich manchmal selbst belügen und belogen werden, wie die Geschichte der letzten Krankheit von Susan Sontag zeigt (siehe das Buch «Tod einer Untröstlichen» von David Rieff).
Die exhibitionistische Inszenierung des Sterbens und der Kampf mit allen Mitteln dagegen bringen Trost, Geld und Medienpräsenz. Sie spiegeln aber auch den Geist dieser unsicheren Zeit. Keine Wochenendbeilage kommt ohne das ultimative Todesgewürz aus, der Lottokönig im «Magazin» hat Leukämie, und wenn ein Buch erfolgreich sein soll, muss es vom kleinen oder grossen Tod handeln. Ist dieses Memento mori eine Wandschrift für eine Zeitenwende, vergleichbar mit der Pest 1348 bis 1352 am eigentlichen Beginn der Neuzeit? Wirklich Neues beginne ja mit Krankheit, meinte schon Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit. Ob das stimmt, müssen wir wohl offenlassen.
Warum aber merken wir erst, wenn sich völlig überraschend die Perspektive ändert und der verbleibende Zeitraum bloss noch einige Wochen, Monate oder ein Jahr beträgt, dass, wie Schlingensief diktiert, «diese Erde bis jetzt der einzige freie Ort im Universum ist, in dem man gestalten und auch glücklich werden kann»? Warum macht erst die Nähe des Todes das Leben mancher so intensiv?
Anna Donald reflektierte über «what makes me feel good». Solchen Gedanken können wir – auch wenn wir noch gesund sind – einige Sommerrezepte entnehmen: mit Menschen, Freunden, Verwandten zusammen sein und essen, denn der Friede auf Erden entsteht, wenn einander wohlgesinnte Leute gemeinsam an einer Tafel sitzen und zeitlos palavern. Sonnenuntergänge geniessen, lange Spaziergänge, Massagen, Bücher.
Besonders wichtig und wohltuend: Regeln und Tabus brechen, Unerwartetes tun. Widersetzen Sie sich dem Sitzungsterror, streichen Sie Beratungstermine und Alibigelübde für Qualität, die Sie nicht einhalten werden. Gehen Sie stattdessen in den Zoo, wandern Sie über den Fürstensteig, steigen Sie auf den Piz Mitgel, oder lassen Sie sich im Glacier Express verwöhnen. Das ist das wirkliche herrliche Leben – und zudem produktiver.
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.