Wenn Seefahrer bei Sturm ihr Schiff hätten verlassen können, wären die Ozeane nie überquert worden. Das dachte ich vor einigen Tagen, als ich im Aufstieg zum Gipfel des 3819 Meter hohen Cerro Chirripó, des höchsten Bergs in Costa Rica, lange im Dschungel umherirrte, nachdem ich den falschen Weg gewählt hatte. Wie gerne hätte ich auf diesen Gipfel verzichtet und wäre lieber irgendwo am Strand gesessen! Aus dem Dickicht führte aber nur der Weg durchs Dickicht. «Duro, duro», hatte mich ein alter Mann zu Beginn meines Aufstiegs gewarnt.
Da hatte es Didier Burkhalter einfacher: Nach zwei Jahren konnte er die AHV- und die IV-Revision sowie seine Projekte im Gesundheitswesen auf halber Strecke weitergeben. Noch selten habe ich mich über einen Politiker und seine Kinnschwäche so geärgert. Hinzu kam noch die Verhöhnung der Öffentlichkeit, man habe sich «im Bundesrat einstimmig und in guter Atmosphäre» geeinigt. Die politischen Parolen von gestern sind heute nicht einmal mehr warme Luft, offensichtliche Lügen wie jene des Libyen-Touristen Merz zur Unternehmenssteuerreform II werden nicht einmal mehr kommentiert. Bei manchem Politiker findet man bei der Suche nach wirbelsäulenartigen Strukturen offenbar nur Gummi.
Was für ein prachtvolles Schiff hat Kurzzeitkapitän Burkhalter dabei doch verlassen! In den vergangenen 100 Jahren fuhr es aus der Stein- in die Neuzeit. Die Gesundheitsbranche beschäftigt in der Schweiz heute mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Einst tödliche Krankheiten sind heilbar geworden, die Lebenserwartung steigt und steigt. Die Lebensqualität hat dank künstlichen Hüften, Penicillin, Ballonkathetern und vielem mehr stark zugenommen. Für das metastasierte Melanom existiert erstmals eine wirksame Behandlung, besonders bösartige Formen von Lymphknotenkrebs sind besser heilbar geworden, und erste Resultate mit Stammzellen wecken Hoffnung bei Patienten mit finaler Herzschwäche. Ebenso wichtig ist, dass die Palliativmedizin einen sanften Tod in Würde ermöglicht.
Und dieses Gesundheitsschiff kann nicht untergehen – die zum Teil divergierenden Interessen von Leichtmatrosen, Offizieren, Küchenjungen und Schiffspfarrern erfordern allerdings eine kontinuierliche und intelligente Führung. Davon ist hierzulande wenig zu spüren, wenn man einmal von den Appellen gegen das Rauchen und das Übergewicht durch das Bundesamt für Gesundheitsterror absieht.
Solche Gedanken hatte ich, als ich durch den costa-ricanischen Urwald irrte. Ich dachte auch nach über das Jahr 2011, das voll war von zerstörtem Vertrauen, sei es in Fukushima, in Kairo, in der Finanzkrise oder am Gegenklimagipfel. Einziger Trost ist, dass einzelne Bösewichte tot sind.
Die Weltenführer werden von Tausenden von Zwergen gefesselt, aber wir haben wenigstens Ueli Maurer, der beharrlich zu seiner besten Armee steht. Hoffen wir, dass Alain Berset, der Neue im Gesundheitswesen, einen ähnlich festen Charakter hat.
Nach fünf Stunden fand ich aus dem Dschungel ans Licht zurück, auf einen Pfad, der mich wieder zum Ausgangspunkt vom Morgen führte. «Más duro», sagte der alte Mann, der noch immer vor seiner Hütte sass. Das Projekt Cerro Chirripó habe ich auf später verschoben. Ich bleibe dran.
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich.Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.