Am 23. Juni 1974 wurde ich nach zweijähriger Tätigkeit als Assistenzarzt am Kantonsspital Zürich fürs Abschlussgespräch zu meinem spartanischen Chef Professor Paul Frick gerufen. Er sagte mir, dass er mir für meine geplante Forschungstätigkeit an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, alles Gute wünsche und dass ich nach meiner Rückkehr als Oberarzt eingestellt würde. Das Gespräch dauerte wenig mehr als eine Minute, ich war trotzdem hoch erfreut und bestens motiviert. Paul Frick war die Verkörperung des Prinzips «Im Anfang war das Wort und nicht das Geschwätz». Ein knappes «So» beendete jegliches unnötige Palaver bei Chefvisiten und Kolloquien.
Ich frage mich, ob heute bei den vorgeschriebenen jährlichen oder halbjährlichen psychotherapeutischen Mitarbeitergesprächen über Wohlergehen und Stimmigkeit mehr erreicht wird. Dies erinnert mich an den ersten Satz in Gabriel García Márquez’ Meisterwerk «Hundert Jahre Einsamkeit»: «Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschiessungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen.»
Ratlos zuhören
Ein einziger Satz verdichtet die Atmosphäre im damaligen Kolumbien, der Leser ist gefangen, der Roman lässt ihn nicht mehr los. Oder es erinnert mich an den Beginn von Christoph Ransmayrs «Morbus Kitahara»: «Zwei Tote lagen schwarz im Januar Brasiliens.» Sprachmächtig und schnörkellos. Klipp und klar, wie Paul Frick zu sagen pflegte. Dies entsprach seinem Stil in den Vorlesungen, in den Patientengesprächen und in der Mitarbeiterführung. Nichts Unnötiges, kein Blabla.
Daran können wir uns heute nur noch wehmutsvoll erinnern. Alle schwätzen, aber keiner kann reden, die Sprache verkommt auf SMS-Niveau. Einen Satz von Livius verstehen heute nur noch wenige. Und ob diese wenigen die Welt retten können, ist ungewiss. Man hat keine Zeit mehr, sich kurz zu fassen, dies ist eine Entschuldigung, die Voltaire formulierte. Ransmayr schreibt an einem Buch sieben Jahre, Gottfried Benn korrigierte und ergänzte manche Gedichte über Jahrzehnte.
Ratlos hören wir der Energieministerin zu, welche die «Halskehren» des Bundesrates verlegen kommentiert und die vielen Unklarheiten wegschiebt, da man nicht in die Zukunft schauen könne. Lieber entlässt man heisse Luft in die Atmosphäre, träumt von Isolationen und warmen Pullovern im Altersheim der Zukunft. Und wärmt die 1000-Watt-Stadt Zürich mit Illusionen.
Sagen, was Sache ist
Darum wären wir mit einem weiteren südamerikanischen Literatur-Nobelpreisträger gut beraten. Mario Vargas Llosa beschreibt im «Traum des Kelten» am Ende die Hinrichtung des irischen Freiheitskämpfers Roger Casement. Trotz allem Protest wird er 1916 in England gehenkt. Die düstere Atmosphäre der letzten Schritte zum Galgen mit dem Unausweichlichen zieht den Leser in ihren Bann. Mönche beten, letzte Umarmungen, dann rät der Henker, während er dem Opfer die Schlinge um den Hals legt: «Wenn Sie die Luft anhalten, geht es schneller.» Und dann der letzte Satz des Romans: «Er tat, wie ihm geheissen.»
Das Unausweichliche offen auszusprechen und klipp und klar zu akzeptieren, wäre auch eine Option für die Schweizer Politik, ob bei den unversteuerten Vermögen oder den zu dünnen Pullovern im Altersheim.
Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.