Im Vorfeld haben Sie uns ein Mail um 4.30 Uhr geschrieben. Schlecht geschlafen?
Pascale Vonmont: Nein, ich stand schon immer früh auf. Ich bin eine Lerche.
Das heisst?
Ich wache zwischen 4 und 5 Uhr auf und brauche keinen Wecker. Meine Dissertation habe ich zwischen 3 und 7 Uhr geschrieben. Ich fange an, wenn andere aufhören. Das ist in grosser Vorteil.
Wie hat Sie Ihr Studium an der ETH geprägt?
An der ETH habe ich gelernt, analytisch zu denken und meine Zeit gut einzuteilen. Zudem habe ich mir angewöhnt, kritische Fragen zu stellen.
Zum Beispiel?
Meine Lieblingsfrage ist: «Macht das Sinn?»
Worüber haben Sie dissertiert?
Über selbstreplizierende Zellen, also Urzellen, Autopoiese im Sinne der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems.
Geht es etwas konkreter?
Es ging um die Rolle von Meteoriten bei der Entstehung des Lebens auf der Erde. Durch Meteoriteneinschläge in der Urzeit entstanden Fettsäuren. Diese können primitive Zellen bilden. Meine Aufgabe war es, innerhalb primitiver Zellen Reaktionen zu deren Vermehrung auszulösen und diese dann auch nachzuweisen.
Warum wurden Sie nicht Wissenschafterin?
Ich war nicht bereit, die damals noch sehr starren Strukturen zu akzeptieren und 150 Prozent präsent zu sein. Meine Tochter war erst sechs Wochen alt, als ich meine Dissertation abgeschlossen hatte. Das Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch heute noch aktuell, obwohl sich mittlerweile die Betreuungsstrukturen stark verbessert haben.
Was macht eine Stiftungschefin?
Die Aufgaben sind vielfältig. Wir sind erste Anlaufstelle für Projektideen und haben deshalb pro Tag vier bis fünf Kontakte zu Antragstellern. Ich berate zum Vorgehen, fädle Kooperationen ein und bereite die Selektion vor. Jedes Projekt wird vom Stiftungsrat beurteilt, er fällt den abschliessenden Entscheid. Die bewilligten Projekte werden von uns betreut. Wir scouten aber auch laufend neue Themen für mögliche neue Handlungsfelder. Mit den 15 Millionen Franken, die wir pro Jahr zur Verfügung haben, fördern wir rund 60 Projekte, viele davon über mehrere Jahre. Wir sind vier Leute bei der Stiftung und betreuen zurzeit rund 150 Projekte.
Betreiben Sie auch Fundraising?
Für die Gebert Rüf Stiftung nicht, aber für andere, etwa das Startup-Programm Venture Kick. Zudem arbeiten wir im Bereich Fundraising mit anderen Stiftungen zusammen. Im Januar treffen sich zwanzig Stiftungsvertreter, um ein gemeinsames Thema in Angriff zu nehmen.
Welches?
Es geht um neue Finanzierungsmodelle für die Aus- und Weiterbildung, insbesondere im Zeitalter der digitalen Transformation. Lebenslanges Lernen ist heute Realität.
Zu Ihren wichtigsten Projekten gehört Venture Kick. Das Startup-Programm gibt es seit zehn Jahren. Was haben Sie erreicht?
Wir haben rund 5000 Arbeitsplätze geschaffen.
Eine schöne Zahl.
Ja. Fast noch besser aber gefällt mir die Zahl 83.
Die wofür steht?
Für unsere Hebelwirkung. Wir geben 1 Franken rein, den Startups gelingt es, weitere 83 Franken bei Investoren zu sammeln. Die Projekte haben eine hohe Akzeptanz im Markt.
Venture Kick als Steigbügelhalter?
Die Projekte werden von einer Jury mit über 150 Investoren, Business Angels und Unternehmern ausgewählt. Damit sind die Startups von der ersten Stunde an mit den Bedürfnissen des Marktes konfrontiert.
Ist die Stiftung an den Startups beteiligt?
Nein, die Beiträge sind à fonds perdu. Wir haben in unserem Fördervertrag aber eine Klausel, sie geht auf unseren Stifter Heinrich Gebert zurück. Wenn jemand – auch dank unserer Anschubfinanzierung – einen grossen wirtschaftlichen Erfolg erzielt, dann erklärt er sich bereit, etwas zurückzugeben. Es ist eine moralische Verpflichtung.
Welches ist das erfolgreichste Startup von Venture Kick?
Bei so vielen Startups ist das schwierig zu sagen. Mehr als die Hälfte der Top 100 Startups in der Schweiz kommen aus Venture Kick heraus. Meine persönlichen Favoriten sind immer technologiebasierte Startups.
Zum Beispiel?
InSphero, ein Anbieter für 3D-Zellkulturen. Das Unternehmen wurde 2008 von Venture Kick gefördert und ist heute ein globaler Player.
Die Schweiz hat bis jetzt nur ein Unicorn hervorgebracht, Mindmaze. Ein Problem?
Unicorns sind schön und ich freue mich für Mindmaze – dem wir übrigens 2011 eine Anschubfinanzierung gaben. Aber noch lieber als Einhörner habe ich Arbeitsplätze. Die geförderten Startups wachsen kontinuierlich. In der Schweiz gibt es zwar keine grosse Skalierung, aber unsere Startups ziehen gute Leute an. Zudem: Der Unicorn-Status ist zunächst nur eine Bewertung.
Der Startup-Standort Schweiz hat mit einigen Problemen zu kämpfen, sei es bei den Steuern oder der Rekrutierung von Talenten.
Immerhin, inzwischen sind die Herausforderungen benannt und liegen auf dem Tisch. Bundesrat Johann Schneider-Ammann hat in den letzten zwei Jahren an vielen Startup-Anlässen teilgenommen und sich angehört, was die Szene braucht. Ich bin optimistisch, dass es voran geht.
Wie können Sie als Stiftungschefin die Politik beeinflussen?
Die meisten Politiker pflegen keinen Kontakt zu den Startups. Wichtig sind deshalb konkrete Geschichten.
Zum Beispiel?
Johannes Reck, Gründer von Getyourguide (einer Website für Sehenswürdigkeiten), einem der erfolgreichsten Schweizer Startups, hat in der Schweiz eine Anschlussfinanzierung gesucht, doch fündig wurde er in Berlin. Zudem wollte er in Zürich Arbeitskräfte einstellen. Schliesslich hat er einen Grossteil seines Unternehmens nach Berlin verlegt. Mit solchen Geschichten lässt sich argumentieren.
Name: Pascale Vonmont
Funktion: Direktorin der Gebert Rüf Stiftung
Alter: 51
Familie: verheiratet, zwei Töchter
Ausbildung: Studium und Doktorat ETH Zürich; Lehramt; Weiterbildung in Stiftungsmanagement an der European Business School
Karriere:
ab 1993: Interdisziplinäres Lehrprogramm an der Universität Basel
1999: Eintritt Gebert Rüf Stiftung
ab 2017: Direktorin
Weitere Funktionen:
Präsidentin Strategierat Venture Kick; Präsidentin Stiftungsrat Startupticker; Vorstandsmitglied SwissFoundations; Advisory Board des Center for Philanthropy Studies an der Universität Basel; Stiftungsrätin Schweizerischer Nationalfonds; Vorstand Digital Switzerland
Wie kommt es, dass der Kapitalerhalt bei der Gebert Rüf Stiftung explizit kein Ziel mehr ist?
Heinrich Gebert ging davon aus, dass nur die Erträge investiert werden sollten: 220 Millionen Franken Kapital, zu 5 Prozent verzinst, ergibt jedes Jahr 10 Millionen Franken an Fördergeldern. Doch dann kam die IT-Blase, dann die Pleite von Lehman Brothers und es zeigte sich, dass die 5 Prozent nicht realistisch waren.
Was haben Sie gemacht?
Mithilfe von Myriam Gebert, der Witwe von Heinrich Gebert, konnten wir anhand von Briefen zeigen, dass es Heinrich Geberts Wunsch war, jetzt etwas zu bewirken. Das führte zur Entscheidung, jährlich sogar 15 Millionen Franken zu investieren. Damit sind wir eine Verbrauchsstiftung.
Das heisst, Sie betreiben Kapitalabbau?
Durchaus, wir sind jetzt bei etwa 152 Millionen Franken. Wenn eine Stiftung die Förderaktiväten reduzieren oder gar aussetzen muss, wird sie zu einem unzuverlässigen Partner und stellt ihren Unternehmenszweck infrage. Eine Stiftung muss konstant fördern können, um Wirkung zu erzielen – besonders auch in Zeiten, in denen sich der Staat und die Industrie zurücknehmen.
Also gibt es die Stiftung unter Umständen in zwanzig Jahren nicht mehr.
Absolut. Doch das macht nichts. Wir wollen jetzt etwas bewirken.
Aber bei Stiftungen geht es doch darum, sich über den Tod hinaus zu verewigen?
In diesem Punkt hat definitiv ein Umdenken stattgefunden. Früher wurde die Gründung einer Stiftung im Testament verankert. Die Stiftungsgründung war eine Art Ablasshandel. Man wollte nach dem Tod etwas Gutes tun, damit man auch in den Himmel kommt. Heute werden die meisten Stifter schon zu Lebzeiten aktiv. Sie wollen ihre Vision sofort umsetzen. Bill Gates sagt über seine Stiftung: «Das ist meine Vision. Meine Kinder sollen ihre eigene verwirklichen.»
Bill Gates – auch hier ein Pionier?
Bill Gates war einer der Ersten, der Philanthropie so verstanden und auch bekannt gemacht hat. Viel früher hat Chuck Feeney, der Gründer von Duty Free, eine Stiftung namens Atlantic Philanthropies gegründet. Sie wird 2020 geschlossen. Eine Stiftung, die ihre Mittel nur während eines beschränkten Zeitraums investiert, erreicht mehr als eine, die jedes Jahr nur mit den Erträgen arbeitet. Feeney war auch der Erste, der gesagt hat: «Ich will wissen, wie man eine Stiftung schliesst.»
Wenn es Ihre Stiftung nicht mehr gibt, dann geht auch ihre Wirkung verloren.
Vielleicht. Aber womöglich gibt es dann ganz andere Bedürfnisse. Vielleicht haben wir dann in der Schweiz so viele Startups, dass es keine Förderung mehr braucht. Wir richten unsere Handlungsfelder schon heute für fünf bis zehn Jahre aus. Wenn das Thema anderweitig aufgenommen wurde, dann wenden wir uns einer neuen Lücke zu.
Die Forschung über seltene Krankheiten haben Sie aufgegeben. Warum?
Als wir vor sechs Jahren anfingen, gab es eine Lücke bei diesem Thema. Die Industrie interessierte sich nicht dafür. Wir haben Projekte gefördert und zwei Kongresse veranstaltet. Dann hat das Bundesamt für Gesundheit einen nationalen Aktionsplan gestartet und der Nationalfonds hat sich an einem europäischen Forschungsprogramm beteiligt. Nun ist das Thema breiter verankert. Wir schieben Prozesse an. Unser Stiftungsrat fragt uns bei einem Thema immer, ob weder Staat noch Industrie beteiligt seien.
Sie schreiben in Ihrem Leitbild, Sie seien im «Tal der Tränen» aktiv. Das klingt etwas düster...
Das Tal der Tränen ist eine bekannte Metapher für eine abgerissene Förderkette. Wenn keine Gelder für die angewandte Forschung bereitgestellt werden, aber noch kein Venture Kapital vorhanden ist. In dieser Phase gehen leider viele innovative Ideen verloren.
Welche Rolle spielt die Familie Gebert heute noch?
Vorneweg, Gründer Heinrich Gebert war nie im Stiftungsrat. Er sagte: «Von Wissenschaft verstehe ich nichts, aber ich möchte die besten Leute haben.» Heinrich Gebert ist 2007 gestorben. In den ersten Jahren durften wir ihm jeweils berichten, was wir machen, wie viele Talente wir gefördert hatten. Er antwortete: «Toll, das ist viel besser, als eine Jacht zu kaufen!» Seine Überzeugung war, dass wir nur durch die Förderung von Innovation den Standort Schweiz halten können. Mit der Stiftung wollte er früh ansetzen.
Wie wichtig sind Stiftungen für die Schweiz?
Ich sage immer: Stiftungen sind nicht entscheidend, aber sie machen den Unterschied. Verglichen mit den Mitteln, die der Staat und die Industrie für Forschung aufwenden, verfügen die Stiftungen über 2 Prozent der finanziellen Mittel. Stiftungen haben die Möglichkeit, früh in Projekte einzusteigen, Themen anzuschieben, unbequeme Debatten aufzugreifen und unpopuläre Sachen anzugehen. Das ist ihr Impact.
In Europa ist man der Philanthropie gegenüber eher kritisch. Man befürchtet, der Staat ziehe sich aus Aufgaben zurück. Zu Recht?
Stiftungen sind keine Lückenbüsser. Sie können keine Aufgaben übernehmen, die der Staat – meist aus guten Gründen – nicht mehr machen möchte. Der Staat will gleichzeitig auch nicht Aufgaben übernehmen, die eine Stiftung angeschoben hat. Stiftungen und der Staat wie auch Private müssen partnerschaftlicher agieren und Stiftungen müssen vor allem auch einen langen Atem bei Projekten haben. Oft wird zu schnell nach dem Erfolg geschielt, diese Quick Wins haben Stiftungen nicht. Dann sind erfolgreiche PPP, Public Private Partnerships, sehr wohl möglich.
Wir sind hier an der St. Alban-Vorstadt, gleich neben dem Kunstmuseum, im Herzen der Stiftungsstadt Basel. Zufall?
Die Gründung einer Stiftung ist abhängig vom verfügbaren Kapital, den Rahmenbedingungen und den Vorbildern. Das alles ist in Basel vorhanden. Basel ist vor allem durch Engagements im Bereich Kultur bekannt. Als gesamtschweizerisch aktive Wissenschaftsstiftung haben wir aber keine lokale Verankerung. Wir haben unseren juristischen Sitz in Zürich, aber die Mitarbeiter wohnen in der Region Basel.
Wie oft sind Sie hier?
Ich bin etwas weniger als die Hälfte meiner Zeit im Büro und sehr oft im Zug. Ich reise gerne, auch privat. Im Sommer geht es nach Namibia. Für mich als Frühaufsteherin perfekt – denken Sie nur an die Sonnenaufgänge in der Wüste.
Die Gebert Rüf Stiftung wurde 1997 vom Unternehmer Heinrich Gebert (1917–2007) als Wissenschaftsstiftung gegründet und mit einem Kapital von 220 Millionen Franken ausgestattet. Heinrich Gebert war Unternehmer und ehemaliger Mitinhaber der Geberit-Gruppe. Nach dem Verkauf der Firma für 1,8 Milliarden Franken im Jahr 1997 brachten die Gebrüder Heinrich und Klaus Gebert beträchtliche Teile ihres Vermögens in Stiftungen ein. Ihre Schwester, Josephine Gebert, hält es ebenso. Die Kinderbuchautorin setzt sich für benachteiligte Kinder ein, finanzierte in Krakau eine katholische Bildungseinrichtung und ermöglichte die Renovation des Tessiner Klosters oberhalb von Claro.