Sinnsuchende aller Couleurs und Hierarchiestufen finden in der Probstei im vorarlbergischen St. Gerold einen Ort, wo sie sich zurückziehen können. |
Zuerst kippt er das Fenster, um den Sommer in das tausendjährige Gemäuer des «Klosterkellers» der Probstei im vorarlbergischen St. Gerold hereinzulassen. Dann knöpft er sich den weissen Kragen unter seiner schwarzen Kutte auf und schenkt Wein ein. Für Gastgeber Probst Nathanael Wirth, der eigentlich Paul heisst und aus Berg TG stammt, ist ein guter Rebensaft Lebenselixier. «Man muss dem Leib viel Gutes tun, damit die Seele gern darin wohnt», zitiert der Benediktinermönch die Mystikerin Theresa von Avila.
«Zum Wohl», sagt der 72-Jährige, nimmt einen Schluck und lehnt sich zurück. Er ist gern Kellermeister. Der heilige Bendedikt verlangt vom Cellerar, dass dieser weise sei, reifen Charakters und besorgt um die ihm anvertrauten Dinge. So wie man die Chefs überall gerne hätte.
«Sind Sie ein guter Manager?», will der Journalist wissen. Probst Nathanael wehrt ab: «Nein, dazu bin ich zu wenig konsequent.» Aber auch den Diener Gottes freut irdische Anerkennung. So hätten ihm die verstorbenen Firmenpatriarchen Martin Hilti vom gleichnamigen Liechtensteiner Befestigungskonzern und Jakob Züllig von Arbonia-Forster einst einen Job in ihren Unternehmen angeboten. Wohl als Wertschätzung für das, was er aus der renovationsbedürftigen Enklave des Klosters Einsiedeln gemacht hat: eine Oase für Sinnsuchende aller Couleurs und Hierarchiestufen, ein anerkanntes Kurs- und Kulturzentrum sowie einen rentierenden Pensions- und Gastrobetrieb. Das Unternehmerforum Lilienberg hat Probst Nathanael denn auch 1999 mit seinem Jubiläumspreis ausgezeichnet. Eine Genugtuung für ihn, der als Modernisierer und eigenwilliger Kopf nicht nur Anhänger hat.
St. Gerold ist «Kloster light», ein niederschwelliges Angebot für den Aufbruch nach innen: keine spartanischen Zellen, kein Weckruf zur nachtschlafenen Stunde fürs Morgengebet, keine Schweigerituale. Wer traditionelles Kloster auf Zeit sucht, ist am falschen Ort. Ausser er nimmt teil an speziellen Meditationskursen, die Stille bewusst verordnen.
Pater Nathanael missioniert nicht: «Wer hier ein paar erholsame Urlaubstage verbringen will, der kann das. Sucht jemand Seelsorge, stehe ich jedoch zur Verfügung.» Er erzählt von ausgebrannten Kaderleuten, die er in schweren Lebenskrisen begleitet. «Ohne Patentrezepte», wie er sagt, «denn ändern können wir unser Leben nur selber. Wenn das Leben glücken soll, müssen wir der Sinnfrage nachgehen.»
Hören die Ausgepowerten auf ihn? Einige gäben Aufgaben ab und reduzierten ihre Arbeitszeiten. Der Gottesmann hat Mühe mit der aktuellen Wirtschaftswelt: «Das ist ein Schnellzug, der früher oder später gegen den Berg rast.» Er wünscht sich Manager, die ihre Mitarbeiter so fördern, dass diese sich auch als Menschen weiterentwickeln können.
Im «Klosterkeller» sitzt zur gleichen Zeit der Innerschweizer Unternehmensberater Wendelin Niederberger mit sechs Kursteilnehmern. Nicht unbescheiden firmiert seine Veranstaltung als «viertägige Entdeckungsreise in eine erfolgreiche Zukunft». Zielpublikum sind Chefs von KMU-Betrieben – auf der Suche nach der «persönlichen Lebensvision» für 2350 Franken pro Person, exklusive Kost und Logis. Sie sollen sich hier eine «klare Strategie zurechtlegen, um nicht wieder ins alte Fahrwasser zu geraten».
Ein solches Seminar könnte doch an irgendeinem Ort stattfinden. «Nein», widerspricht Niederberger, «das Seminar ist auf diesen Ort hin konzipiert.» Wirtschaftsleute seien zu oft in Hotels, als dass sie im dortigen Umfeld losliessen. St. Gerold habe «eine positive Schwingung» – ohne Abstriche bei Unterkunft und Verpflegung. Was auch Kursteilnehmerin Gabriela Oeschger aus Kempraten SG bestätigt. Die Reisebüro-Inhaberin genoss die Seminartage «abseits vom Stress, in einer liebevoll-grosszügigen Atmosphäre».
Niederberger ist Wiederholungstäter; an die 20-mal war er schon in der Probstei. Er hält nichts von Event-Seminaren, wo man die Leute an Gleitschirmen und in Rafting-Booten an die Grenzen gehen lässt. «Das bringt zwar den Kick, aber keine Veränderung im Leben. Wer diese Shows ernst nimmt, stürzt nur noch mehr ab.»
Gibt es tatsächlich so etwas wie eine neue Spiritualität der Chefs? Christophe Soutter, Geschäftsführer des Zentrums für Unternehmensführung (ZfU) in Thalwil ZH, registriert eine stärkere Nachfrage bei Managementkursen zu Sinnfragen, «ganz im Gegensatz zu Innovations- und Kreativitätsseminaren, wo zurzeit von den Unternehmen gespart wird». Kurse mit Abenteuerfeeling hat das ZfU bereits seit längerem aus dem Angebot gestrichen.
Spirituelles Zugpferd ist Pater Daniel Schönbächler, Abt im Kloster Disentis GR. Seine ZfU-Intensivseminare zur Persönlichkeitsfindung sind für 2002 ausgebucht. Es bestehen Wartelisten. Das Feedback der Teilnehmenden – zu 70 Prozent Mitglieder der Geschäftsleitung – ist euphorisch: «Faszinierend, wegweisend, keine Minute abgehängt.» Kritik bleibt rar: «Angelesenes Wissen ohne Bezug zur Praxis.»
Also machen wir uns auf zum Zampano nach Disentis. Die Benediktinerabtei samt barocker Klosterkirche thront über dem Dorf in der Surselva. Abt Daniel, ein drahtiger Mann mit wachen, freundlichen Augen, holt seinen Besucher an der Klosterpforte ab. Es ist still in den langen Gängen.
Nein, ein Guru sei er nicht und schon gar kein Vorzeigemanager, eher ein Vater und geistlicher Begleiter. Seit er ZfU-Kurse hält, etikettiert man ihn als Managementberater. Er mag das nicht: «Das sind Erwachsenenspiele.» Genauso wie die gut 3000 Franken Kurskosten für das Seminar «Persönlichkeit – die Grundlage gelingender Kommunikation». Was nichts koste, sei in der Wahrnehmung vieler auch nichts wert, merkt er an. Er nimmt die Tantiemen und bringt sie ein in den gemeinsamen Klostertopf.
Als er Ende 2000 von den Mönchen in Disentis zum Abt gewählt wurde, warnte ihn ein Freund: Häuptling und Medizinmann zu sein, das gehe nicht. Ob es funktioniert? «Ich arbeite daran», sagt Abt Daniel.
Der 59-jährige Priester, Germanist, Kunsthistoriker und Erwachsenenbildner hat die Manager nicht gesucht. Sie haben ihn gefunden. Nicht die ganz grossen Bosse. «Die glauben, alles zu können. Oder sie haben Angst», meint Abt Daniel. Denn in seinen Kursen gelten keine Hierarchien. Und es kann wehtun, wenn man den Spiegel vorgehalten bekommt.
Der Ansatz des Mönchs: «Vieles, was sich in uns abspielt, bleibt im Unbewussten. Wir gleichen einem Eisberg, wo sechs Siebtel unter der Wasseroberfläche liegen. Wir können unseren Charakter nicht ändern, aber wir können lernen, besser damit umzugehen.»
Ziel ist, dass man sich seiner selbst bewusst wird. Und lernt, mit Widersprüchen und Unsicherheiten umzugehen: «Das Leben offenbart sich, auch wenn wir es vertuschen wollen. Andere kann man nicht belügen, nur sich selber.» Was Abt Daniel bestärkt: Seine Seminarleute verabreden sich später regelmässig zu Fortsetzungstreffen ausserhalb des ZfU-Rahmens.
Wer noch näher ran will ans Benediktinische, der bucht für eine oder zwei Wochen Kloster auf Zeit. Niemand ist verpflichtet, an den fixen Gebetszeiten zwischen morgens um halb sechs und abends um acht teilzunehmen. Doch die meisten tun es, schätzen das Ritual und helfen auch mit bei den klösterlichen Verrichtungen – ora et labora.
Bei Tisch herrscht Stille. Patres, Brüder und Gäste sitzen sich nicht gegenüber, sondern nebeneinander. Zu hören sind nur das Klappern des Bestecks und die Stimme eines Vorlesers, der Geistliches und Zeitgeschichtliches vorträgt.
Die Gästezimmer in Disentis sind meist ausgebucht. Die Nachfrage hat zugenommen. Nicht nur seitens notorischer Sinnsucher, die nach indianischen Schwitzritualen und anderem esoterischem Klimbim auf dem Klostertrip sind. Auch der IBM-Manager oder der Betriebsinhaber, der schon zum wiederholten Mal hier ist, wollen in Disentis zur Ruhe kommen. Einzelne bleiben für immer, wie Bruder Magnus Bosshard, der Abt Daniel bei seinen ZfU-Kursen assistiert. Bosshard war zuvor Geschäftsführer und Creative Director der Agentur Advico Young & Rubicam.
«Mehr Zeit zum Nachdenken würde vielen Managern gut tun», findet auch Johannes Czwalina. Der Expfarrer aus Basel ist heute Chef einer Consulting-Firma. Zu seinen Kunden zählen die Deutsche Telekom, DaimlerChrysler, aber auch die SAirGroup in ihren letzten Zügen: «Ich begleite dort Kaderleute, die nicht nur ihren Job verloren haben, sondern oft auch vor den Trümmern ihres Privatlebens stehen.»
Viele Führungsleute lieferten sich dem Beruf derart aus, dass für nichts sonst mehr Zeit bleibe. «Manager realisieren zu wenig, dass die wichtigste Herausforderung, die sie zu managen haben, sie selber sind. Führende sind heute verderbliche Ware. Sie opfern in der ersten Hälfte ihrer Karriere ihre Gesundheit, um einen Haufen Geld zu verdienen. In der zweiten Hälfte brauchen sie dann das ganze Geld, um ihre Gesundheit zurückzuerlangen», spitzt Czwalina zu. Er empfiehlt Zeitinseln, um sich zu sammeln. So wie es die Klosterleute mit ihren regelmässigen Zeiten der Stille praktizieren. Denn Stille nährt die Gedanken. Diese Art von Reflexion fehle in den Unternehmen und im Leben der Manager.
Mark Saxer, ehemaliges Direktionsmitglied beim Basler Pharmakonzern Ciba-Geigy, hat für sich die Konsequenzen gezogen. Nachdem er schon zuvor regelmässig meditiert hatte, nahm er sich vor vier Jahren im interreligiösen Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn ZG eine halbjährige Auszeit. Bekennende Meditierer sind etwa auch die Zürcher Regierungsrätin Verena Diener und Marius Cottier, bis vor kurzem Präsident der Raiffeisen-Banken Schweiz.
Saxer machte sich nach seinem Sabbatical als Berater für nachhaltige Unternehmensführung selbstständig. Zum halben Einkommen von zuvor, aber um vieles erfüllter: «Nur für Geld und Boni zu arbeiten, befriedigt keinen auf Dauer.»
Heute berät er Unternehmen, denen soziale Folgekosten nicht egal sind. Etwa den deutschen Tochterbetrieb des kanadischen Alcan-Konzerns. Dort versucht die Führung, ihre eigene Betriebskultur ins globale Unternehmen hinüberzuretten. Dann gibt es aber auch Firmen, die «Ethik» bloss kalkulieren, um rechtlich auf der sicheren Seite zu sein: etwa so viel Gleichberechtigung wie nötig oder sozialverträgliche Bedingungen bei den Zulieferbetrieben zur Image-Politur.
Der 57-Jährige macht sich keine Illusionen: «Es ist eine Minderheit der Führungskräfte, die den Schritt zu mehr Arbeitsqualität wagt. Viele machen weiterhin den Spagat – trotz persönlichem Unbehagen.» Saxer ist aber überzeugt: «Das Leaderprofil von morgen muss ganzheitlicher sein als heute.»
Wer ein paar Tage in einem der erwähnten Klöster verbringen möchte, hier die Adressen:
Probstei St. Gerold, A-6721 St. Gerold, Telefon 0043/55 50 21 21
Benediktinerabtei Disentis, 7180 Disentis, Telefon 081/929 69 00
Lassalle-Haus, Bad Schönbrunn, 6313 Edlibach, Telefon 041/757 14 14
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