Hinterher ist man immer klüger. Die letzten Jahre waren von einer Reihe unternehmerischer Fehlentscheidungen geprägt. International Business Machines (IBM) und der US-Einzelhandelsriese Sears Roebuck investierten erhebliche Summen in den US-Onlinedienstleister Prodigy, statt ein profitables Internetunternehmen aufzubauen. Beide verloren mehrere Milliarden Dollar. Im Finanzsektor verloren US-amerikanische Banken in den Achtzigerjahren grosse Mengen an Kapital in aufeinander folgenden Krisen in Lateinamerika. Die Nobelpreisträger bei Long-Term Capital Management, dem vom Pech verfolgten Hedgefund, verloren 1998 Milliarden, als sie es versäumten, Szenarien zu berücksichtigen, die grundlegende Annahmen ihrer mathematischen Modelle in Frage stellten. Diese schweren Fehlleistungen erinnern uns daran, dass immer wieder auch ansonsten gewitzte Einzelpersonen und Unternehmen Entscheidungen treffen, die nur als unteroptimal zu bezeichnen sind.
In jedem der Fälle versäumten es die Protagonisten, sich eine entscheidende Frage zu stellen: Was passiert, wenn wir uns irren – wenn wir uns gewaltig irren? Sie schätzten mit anderen Worten die ihren Entscheidungen inhärenten Risiken völlig falsch ein. In diesem Artikel wird ein anderer Weg aufgezeigt, diese Art Entscheidungen anzugehen, und es wird ein neues Handwerkszeug angeboten, mit dem das Management von Risiken in einem launischen, unberechenbaren, weltweiten Markt erfolgen kann.
Die Gruppen von Szenarien
Es gibt zwei sehr unterschiedliche Arten der Szenario-Planung. Die eine ist exploratorischer Natur: Sie versucht, die Umrisse einer unbekannten Landschaft, der Zukunft, hauptsächlich aus einem allgemeinen Interesse heraus zu verstehen. Ein exploratorischer Ansatz kann hilfreich dabei sein, möglicherweise unvorhergesehene Risiken aufzudecken, ist jedoch für Entscheidungsträger nicht immer von Bedeutung.
Die zweite Gruppe von Szenarien, die sich auf das Treffen von Entscheidungen bezieht, ist sehr viel bedeutsamer. Sie trägt dazu bei, ein besseres Verständnis für Risiken und deren Management zu entwickeln. Dieser Artikel konzentriert sich auf diese zweite Verwendung von Szenarien.
Szenarien zur Entscheidungsfindung entstehen nicht im Abstrakten. Wir müssen wissen, wer die Entscheidungsträger sind, denn Individuen gründen ihre Entscheidungen auf Wahrnehmungen ebenso wie auf Tatsachen. Menschen interpretieren Fakten und ordnen sie in einen Zusammenhang ein. Solche Interpretationen und Zusammenhänge sind begründet in den Glaubenssystemen, psychologischen Haltungen und Weltanschauungen des Entscheidungsträgers.
Der beste Weg, dies herauszufinden, ist es, eine Reihe prüfender Fragen zu stellen. Sind die Entscheidungsträger analytisch und quantitativ – beispielsweise Ingenieure oder Wissenschaftler? Oder sind sie intuitiv und qualitativ – vielleicht Historiker, Philosophen oder Psychologen? Sind sie Optimisten oder Grübler? Sind sie systemische Denker, die immer die Interaktionen zwischen Einheiten im Auge haben, oder eher lineare, die den Ereignissen sequenziell nachgehen? Ist ihre Sichtweise politisch beeinflusst? Sind sie Aristokraten, elitärem Denken verhaftet, oder Populisten? Sehen sie geheime Verschwörungen, oder akzeptieren sie die Logik historischer Zufälle? Werden sie durch ihre eigenen Ambitionen und Vorlieben geblendet, oder sind sie lernbegierig? Sind sie empfänglich für Herdenmentalität?
Diese Art Fragen helfen dabei, Eigenarten von Entscheidungsträgern zu berücksichtigen und damit die notwendigen Grundlagen für die Entwicklung brauchbarer Szenarien zur Entscheidungsfindung zu schaffen.
Subjektive Bewertung
Unternehmen bewerten die Natur strategischer Risiken nicht als objektive Realität, sondern eher aus dem subjektiven Blickwinkel der Entscheidungsträger. Während die Bewertung von Risiken zum Teil direkter sachlicher Analyse zugänglich ist (gewöhnlich dann, wenn die Risiken hauptsächlich technischer Natur sind), handelt es sich bei den Risiken, mit denen wir uns in der Hauptsache beschäftigen, um jene, bei denen der Entscheidungsträger oder die Entscheidungsträgerin selbst das Wesen des Risikos beobachten und interpretieren muss.
Wie können die Unterschiede in den subjektiven Interpretationen von Einzelpersonen (und Unternehmen) ihre strategischen Entscheidungen beeinflussen? Ist es möglich, dass eine Person das Ziel zu hoch ansetzt und danach strebt, zu schnell zu viel zu erreichen, oder das Ziel zu niedrig steckt und zu wenig zu erreichen erwartet?
Die kognitiven Landkarten von Entscheidungsträgern können in gleicher Weise dazu beitragen, ihre Antworten auf objektivere Fragen zu verzerren. Welches sind die Charakteristika von tödlichen Risiken, und wie gross sind sie? Wie gross können die Verluste ausfallen? Wie viel Raum ist zum Manövrieren gegeben? Wie sieht das Gleichgewicht zwischen Lohn und Risiko aus? Wie hoch ist die Versicherungspolice, deren es gegen derartige Risiken bedarf? Die Wahrnehmungen von Entscheidungsträgern bilden das Rahmenwerk für die Art und Weise, in der sie über derartige Fragen denken.
Wie bewerten also Entscheidungsträger ein Risiko in Situationen grosser Unsicherheit? Grösstenteils indem sie sich in kollektiver Selbsttäuschung ergehen. Sie beginnen mit einem bevorzugten Szenario der überlieferten Weisheit, der akzeptierten Sichtweise oder der offiziellen Zukunft.
In der Szenario-Planung ist es von grosser Bedeutung, dass die Mitglieder einer Planungsgruppe, die eine Auswahl möglicher Zukunftsszenarien zur Diskussion entwickeln, dabei sicherstellen, dass die offizielle Zukunft sich unter diesen befindet. Erst wenn dieses anfängliche Szenario in Frage gestellt wird – und zwar durch gute Recherche, Analysen und kraftvolle neue Tatsachen –, werden die Entscheidungsträger andere Möglichkeiten unter zukünftigen Optionen in Betracht ziehen.
Wie identifizieren und beschreiben wir nun die offizielle Zukunft? Dazu müssen wir die kognitiven Prozesse der Entscheidungsträger sowie die Umwelten der Organisationen und Märkte ergründen, in denen sie operieren. Ein guter Ansatz besteht darin, zentrale Entscheidungsträger in ein ausführliches Gespräch zu verwickeln und ihnen eine Reihe abstrakter Fragen zu stellen, die zum Ziel haben, spontane und ausführliche Antworten zu provozieren.
Es gibt fünf solcher Fragen, von denen ich die erste als Orakel-Frage bezeichne.
Daher besteht der nächste Schritt bei der Entwicklung von Szenarien darin, die primären Entscheidungen zu identifizieren, vor denen Manager stehen. Gewöhnlich zentrieren diese sich auf die Frage: Sollten wir etwas tun? Dazu können der Aufbau von Infrastruktur, die Markteinführung eines Produktes, der Beginn eines neuen Geschäfts oder die Beendigung eines alten gehören. Um die Antwort auf diese Frage herum werden dann Szenarien entwickelt, indem die möglichen positiven und negativen Ergebnisse betrachtet werden. Der Schlüssel zu jedem Szenario liegt darin, wie es sich auf die «Sollten wir?»-Frage bezieht.
Dieser Prozess lässt sich am besten durch Betrachtung von Beispielen illustrieren. Eine der folgenschwersten strategischen Entscheidungen der vergangenen Jahre wurde von AT&T getroffen, der grössten US-Telefongesellschaft, und zwar geschah dies in den späten Achtzigerjahren mit Bezug auf das Internet. Zu jener Zeit spielte die US-Regierung – insbesondere die National Science Foundation (NSF) – bei der Betreibung des Internets eine grosse Rolle. Die NSF wollte sich aus dieser Rolle zurückziehen und bot an, die Betreibung ohne Gegenleistung an AT&T zu übertragen. Die US-Regierung bot AT&T also ein freies Monopol auf das an, was sich in einer einzigen Dekade zum immer stärker dominierenden Kommunikationsmedium entwickelt hat. AT&T lehnte ab. Wie konnte dies passieren?
Mentale Landkarten
Die Antwort ist bei den nicht auf den Prüfstand gestellten mentalen Landkarten der Führungsspitze von AT&T zu suchen. Der Instinkt der zentralen Entscheidungsträger richtete sich darauf, Tugenden in ihren gegenwärtigen Systemen sowie Schwächen der neuen Technologie zu sehen. Schliesslich hatten sie das zentral geschaltete Netzwerk entwickelt und gebaut, auf dessen Grundlage ihre Dienste operierten. Weshalb sollte jemand sich für eine weniger effiziente Technologie von geringerer Qualität interessieren? Ihre Technikexperten bestärkten das Management nur in seinen Vorurteilen. Sie gingen davon aus, die Paketvermittlung – die dem Internet zu Grunde liegende Technologie – würde nicht funktionieren. Des Weiteren glaubten sie, es bestehe nur geringer Bedarf für auf dem Internet basierende Dienstleistungen. Die Technikexperten des Unternehmens zogen die Schlussfolgerung, das Internet sei unbedeutend für die Telefonie und habe auch in keinem anderen Zusammenhang kommerzielle Bedeutung.
Hätten die Entscheidungsträger von AT&T alternative Szenarien in Betracht gezogen, wären sie möglicherweise zu einer anderen Schlussfolgerung gekommen. Zum Thema Technologie und Telefonie hätten sie beispielsweise den Huber-Bericht für die US-Regierung lesen können, in dem untersucht wurde, wie das, was das Internet werden sollte, möglicherweise die Telefonie neu strukturieren könnte. Bei dem Bericht – von einigen Experten abgelehnt, von anderen hoch gelobt – handelte es sich um ein glaubwürdiges Dokument, und AT&T hätte ein Szenario entwickeln können, in dem die Ergebnisse des Berichts als korrekt zu Grunde gelegt wurden. Ihnen lagen Ergebnisse, überzeugende Recherchen und Analysen vor, die sie dazu hätten bewegen können – und sollen –, ein Szenario zu entwickeln, das ihre auf technischen Gesichtspunkten basierenden Einschätzungen herausgefordert hätte.
Zweitens ignorierte AT&T die erhebliche Arbeit, die bereits im Bereich der Entwicklung des direkt zwischen Unternehmen stattfindenden elektronischen Handels geleistet worden war. Es hätte beispielsweise untersucht werden können, welche Möglichkeiten es für Unternehmen gab, ihre Aktivitäten neu zu strukturieren, neue Dienstleistungen anzubieten, auf neuen Wegen miteinander in Verbindung zu treten und neuen Bedarf für onlinegestützte Geschäftsdienstleistungen zu schaffen. Es hätte keiner grossen Anstrengung bedurft, um die Verbesserungen in der Effizienz darzustellen, die in diesem (nunmehr realen) Szenario möglich wurden.
Die Planer bei AT&T hätten den Entscheidungsträgern zwei Szenarien vorstellen können. Eines davon wäre die offizielle Zukunft gewesen, in der weiterhin eine zentral geschaltete Architektur dominiert hätte. Daneben wäre auch die Entwicklung einer Alternative denkbar gewesen, in der neue Märkte für Internetdienste und neue Arten der Telefonie die bis dahin dominierende Netzwerkarchitektur herausforderten. Ein solches Szenario hätte den Entscheidungsträgern mindestens eine Vorstellung von dem Potenzial des Internets vermittelt und sie damit veranlasst, die Entscheidung als schwerwiegender einzustufen und möglicherweise eine grundlegend andere Schlussfolgerung zu ziehen.
Szenarien sind nicht nur nützlich, wenn es darum geht, spezifische Entscheidungen zu treffen, sondern sie ermutigen Entscheidungsträger auch zu einer sehr viel grösseren Sensibilität gegenüber neuen Signalen für Veränderungen. Was nicht vorhergesehen wurde, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht zur rechten Zeit gesehen. Szenarien können dazu dienen, Entscheidungsträger dahin gehend zu trainieren, Signale rechtzeitig zu erkennen. Selbst wenn AT&T angesichts der Unsicherheit die gleiche Entscheidung getroffen hätte, wäre es dem Unternehmen möglich gewesen, sich mit der Entwicklung von Router-Technologie und Onlinediensten dagegen abzusichern, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. AT&T wäre dann in der Lage gewesen, zu einem frühen Zeitpunkt sowohl Cisco Systems, einem Computer-Netzwerk-Unternehmen, als auch AOL, dem Internet-Serviceprovider, ernsthaft Konkurrenz zu machen, denn zu der Zeit wurde das Internet bereits zunehmend erkennbar. Und für ein Unternehmen, das die Operationen von AOL, Yahoo, dem Pionier unter den Suchmaschinen, und Cisco in einer Hand vereinigt, muss es die Spekulation über die Möglichkeiten wert sein. AT&T traf die grundlegend falsche Entscheidung, weil dort niemals ernsthaft alternative Szenarien in Betracht gezogen wurden.
Ein anderes Beispiel zeigt, wie Szenarien einen Rahmen für Gedankengänge liefern können, die Flut von Informationen auf der Suche nach den Fakten mit wirklichen Konsequenzen durchzusieben. Vor einigen Jahren begann ein hoch entwickeltes Technologieunternehmen, die Zukunft einiger seiner Schlüsseltechnologien sowie seine Strategien im Bereich Forschung und Entwicklung einer genauen Prüfung zu unterziehen. In Workshops, die das Ziel hatten, diesen Prozess zu vereinfachen, entspannen sich Diskussionen über das Potenzial von Brennstoffzellen, das menschliche Leben verlängernder Biotechnologie sowie Nanotechnologie.
Die Teilnehmer aus der technischen Führungsspitze verwarfen zumeist das Potenzial dieser neuen Gebiete. Jedoch entwickelten sie eine Vielzahl von Szenarien, in denen das Zusammenspiel technischer Entwicklungen und der Marktakzeptanz beleuchtet wurde. Diese beschäftigten sich mit der Möglichkeit, dass es zu raschen Fortschritten bei frühzeitiger Annahme von Technologien kommen würde oder dass der technische Fortschritt langsamer sein oder sich sogar ernsthafter Widerstand am Markt auftun könnte. Jedes dieser Szenarien stellte sich auf seine Weise als scharfsichtig heraus und bereitete die Führungskräfte – trotz ihrer anfänglichen Skepsis – auf frühe Anzeichen für Veränderungen vor und darauf, deren Bedeutung zu erkennen.
In den darauf folgenden Monaten berichteten Mitglieder der technischen Gruppe darüber, dass Informationen über diese Szenarien aus dem Hintergrund zu treten begannen. Artikel aus Tageszeitungen, Zeitschriften und Magazinen über Nanotechnologie, Brennstoffzellen, Lebensverlängerung und genetisch modifizierte Organismen tauchten immer häufiger auf. Innerhalb eines Jahres änderte man die Ansichten über das Potenzial dieser neuen Technologien und brachte erfolgreich Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung in zwei Bereichen auf den Weg – und das entscheidend früher als die Konkurrenten auf dem Markt.
Technologischer Fortschritt
Die Szenarien gaben den technischen Führungskräften ein vertrautes Konstrukt an die Hand, in das neue Daten eingefügt werden konnten und dann Sinn ergaben. Da die Gruppe die detaillierten, wenn auch hypothetischen Konsequenzen einer Akzeptanz dieser Technologien in grossem Umfang in Betracht gezogen hatte, war sie in der Lage, sehr viel fundiertere Aussagen über die real stattfindende Entwicklung zu treffen.
Das Szenario erwies sich als Hilfsmittel, das es ihnen ermöglichte, neue Informationen rechtzeitig wahrzunehmen, bedeutende Signale für Veränderungen zu erkennen und die Bedeutung dieser Veränderungen für ihre eigene Organisation zu verstehen. Sie waren infolgedessen in der Lage, die offen zu Tage liegenden Risiken der neuen technologischen Möglichkeiten neu einzuschätzen.
Szenarien dienen nicht nur dem unmittelbaren Prozess der Entscheidungsfindung, sondern sie führen auch zu graduellen Veränderungen in den Wahrnehmungsmodellen der Entscheidungsträger selbst.
Entscheidungsträger können ihre Wahrnehmung neu gestalten und ihre Ansichten überarbeiten, schliesslich auch ihre Schwerpunkte ändern, auch während sie sich vorwärts bewegen. Auf diese Weise können Szenarien ihre Wirkung also kurzfristig entfalten, indem sie eine fundiertere unmittelbare Entscheidung ermöglichen, aber auch auf lange Sicht, indem Entscheidungsträger ihre mentalen Landkarten neu gestalten.
ZUR PERSON:
Peter Schwartz ist Vorsitzender des Global Business Network (www.gbn.org) und Autor von «The Art of the Long View». Er ist ehemaliger Leiter der Szenario-Planung bei Royal Dutch / Shell.
In jedem der Fälle versäumten es die Protagonisten, sich eine entscheidende Frage zu stellen: Was passiert, wenn wir uns irren – wenn wir uns gewaltig irren? Sie schätzten mit anderen Worten die ihren Entscheidungen inhärenten Risiken völlig falsch ein. In diesem Artikel wird ein anderer Weg aufgezeigt, diese Art Entscheidungen anzugehen, und es wird ein neues Handwerkszeug angeboten, mit dem das Management von Risiken in einem launischen, unberechenbaren, weltweiten Markt erfolgen kann.
Die Gruppen von Szenarien
Es gibt zwei sehr unterschiedliche Arten der Szenario-Planung. Die eine ist exploratorischer Natur: Sie versucht, die Umrisse einer unbekannten Landschaft, der Zukunft, hauptsächlich aus einem allgemeinen Interesse heraus zu verstehen. Ein exploratorischer Ansatz kann hilfreich dabei sein, möglicherweise unvorhergesehene Risiken aufzudecken, ist jedoch für Entscheidungsträger nicht immer von Bedeutung.
Die zweite Gruppe von Szenarien, die sich auf das Treffen von Entscheidungen bezieht, ist sehr viel bedeutsamer. Sie trägt dazu bei, ein besseres Verständnis für Risiken und deren Management zu entwickeln. Dieser Artikel konzentriert sich auf diese zweite Verwendung von Szenarien.
Szenarien zur Entscheidungsfindung entstehen nicht im Abstrakten. Wir müssen wissen, wer die Entscheidungsträger sind, denn Individuen gründen ihre Entscheidungen auf Wahrnehmungen ebenso wie auf Tatsachen. Menschen interpretieren Fakten und ordnen sie in einen Zusammenhang ein. Solche Interpretationen und Zusammenhänge sind begründet in den Glaubenssystemen, psychologischen Haltungen und Weltanschauungen des Entscheidungsträgers.
Der beste Weg, dies herauszufinden, ist es, eine Reihe prüfender Fragen zu stellen. Sind die Entscheidungsträger analytisch und quantitativ – beispielsweise Ingenieure oder Wissenschaftler? Oder sind sie intuitiv und qualitativ – vielleicht Historiker, Philosophen oder Psychologen? Sind sie Optimisten oder Grübler? Sind sie systemische Denker, die immer die Interaktionen zwischen Einheiten im Auge haben, oder eher lineare, die den Ereignissen sequenziell nachgehen? Ist ihre Sichtweise politisch beeinflusst? Sind sie Aristokraten, elitärem Denken verhaftet, oder Populisten? Sehen sie geheime Verschwörungen, oder akzeptieren sie die Logik historischer Zufälle? Werden sie durch ihre eigenen Ambitionen und Vorlieben geblendet, oder sind sie lernbegierig? Sind sie empfänglich für Herdenmentalität?
Diese Art Fragen helfen dabei, Eigenarten von Entscheidungsträgern zu berücksichtigen und damit die notwendigen Grundlagen für die Entwicklung brauchbarer Szenarien zur Entscheidungsfindung zu schaffen.
Subjektive Bewertung
Unternehmen bewerten die Natur strategischer Risiken nicht als objektive Realität, sondern eher aus dem subjektiven Blickwinkel der Entscheidungsträger. Während die Bewertung von Risiken zum Teil direkter sachlicher Analyse zugänglich ist (gewöhnlich dann, wenn die Risiken hauptsächlich technischer Natur sind), handelt es sich bei den Risiken, mit denen wir uns in der Hauptsache beschäftigen, um jene, bei denen der Entscheidungsträger oder die Entscheidungsträgerin selbst das Wesen des Risikos beobachten und interpretieren muss.
Wie können die Unterschiede in den subjektiven Interpretationen von Einzelpersonen (und Unternehmen) ihre strategischen Entscheidungen beeinflussen? Ist es möglich, dass eine Person das Ziel zu hoch ansetzt und danach strebt, zu schnell zu viel zu erreichen, oder das Ziel zu niedrig steckt und zu wenig zu erreichen erwartet?
Die kognitiven Landkarten von Entscheidungsträgern können in gleicher Weise dazu beitragen, ihre Antworten auf objektivere Fragen zu verzerren. Welches sind die Charakteristika von tödlichen Risiken, und wie gross sind sie? Wie gross können die Verluste ausfallen? Wie viel Raum ist zum Manövrieren gegeben? Wie sieht das Gleichgewicht zwischen Lohn und Risiko aus? Wie hoch ist die Versicherungspolice, deren es gegen derartige Risiken bedarf? Die Wahrnehmungen von Entscheidungsträgern bilden das Rahmenwerk für die Art und Weise, in der sie über derartige Fragen denken.
Wie bewerten also Entscheidungsträger ein Risiko in Situationen grosser Unsicherheit? Grösstenteils indem sie sich in kollektiver Selbsttäuschung ergehen. Sie beginnen mit einem bevorzugten Szenario der überlieferten Weisheit, der akzeptierten Sichtweise oder der offiziellen Zukunft.
In der Szenario-Planung ist es von grosser Bedeutung, dass die Mitglieder einer Planungsgruppe, die eine Auswahl möglicher Zukunftsszenarien zur Diskussion entwickeln, dabei sicherstellen, dass die offizielle Zukunft sich unter diesen befindet. Erst wenn dieses anfängliche Szenario in Frage gestellt wird – und zwar durch gute Recherche, Analysen und kraftvolle neue Tatsachen –, werden die Entscheidungsträger andere Möglichkeiten unter zukünftigen Optionen in Betracht ziehen.
Wie identifizieren und beschreiben wir nun die offizielle Zukunft? Dazu müssen wir die kognitiven Prozesse der Entscheidungsträger sowie die Umwelten der Organisationen und Märkte ergründen, in denen sie operieren. Ein guter Ansatz besteht darin, zentrale Entscheidungsträger in ein ausführliches Gespräch zu verwickeln und ihnen eine Reihe abstrakter Fragen zu stellen, die zum Ziel haben, spontane und ausführliche Antworten zu provozieren.
Es gibt fünf solcher Fragen, von denen ich die erste als Orakel-Frage bezeichne.
- Wenn Sie mit einem Orakel sprechen könnten, welche Fragen würden Sie ihm über die Zukunft stellen?
- Zweitens: Wie sieht, mit Blick auf die Entscheidung, die vor Ihnen liegt, das Szenario für das bestmögliche Ergebnis aus?
- Drittens: Welches ist das Szenario für das schlechtestmögliche Ergebnis?
- Viertens: Wenn Sie in den Ruhestand gingen oder Ihr Unternehmen verliessen, wovon würden Sie sich wünschen, dass Ihre ehemaligen Kollegen es als Ihr Vermächtnis ansehen?
- Schliesslich: Gibt es in Ihrer Organisation wichtige Hindernisse für Veränderungen?
Daher besteht der nächste Schritt bei der Entwicklung von Szenarien darin, die primären Entscheidungen zu identifizieren, vor denen Manager stehen. Gewöhnlich zentrieren diese sich auf die Frage: Sollten wir etwas tun? Dazu können der Aufbau von Infrastruktur, die Markteinführung eines Produktes, der Beginn eines neuen Geschäfts oder die Beendigung eines alten gehören. Um die Antwort auf diese Frage herum werden dann Szenarien entwickelt, indem die möglichen positiven und negativen Ergebnisse betrachtet werden. Der Schlüssel zu jedem Szenario liegt darin, wie es sich auf die «Sollten wir?»-Frage bezieht.
Dieser Prozess lässt sich am besten durch Betrachtung von Beispielen illustrieren. Eine der folgenschwersten strategischen Entscheidungen der vergangenen Jahre wurde von AT&T getroffen, der grössten US-Telefongesellschaft, und zwar geschah dies in den späten Achtzigerjahren mit Bezug auf das Internet. Zu jener Zeit spielte die US-Regierung – insbesondere die National Science Foundation (NSF) – bei der Betreibung des Internets eine grosse Rolle. Die NSF wollte sich aus dieser Rolle zurückziehen und bot an, die Betreibung ohne Gegenleistung an AT&T zu übertragen. Die US-Regierung bot AT&T also ein freies Monopol auf das an, was sich in einer einzigen Dekade zum immer stärker dominierenden Kommunikationsmedium entwickelt hat. AT&T lehnte ab. Wie konnte dies passieren?
Mentale Landkarten
Die Antwort ist bei den nicht auf den Prüfstand gestellten mentalen Landkarten der Führungsspitze von AT&T zu suchen. Der Instinkt der zentralen Entscheidungsträger richtete sich darauf, Tugenden in ihren gegenwärtigen Systemen sowie Schwächen der neuen Technologie zu sehen. Schliesslich hatten sie das zentral geschaltete Netzwerk entwickelt und gebaut, auf dessen Grundlage ihre Dienste operierten. Weshalb sollte jemand sich für eine weniger effiziente Technologie von geringerer Qualität interessieren? Ihre Technikexperten bestärkten das Management nur in seinen Vorurteilen. Sie gingen davon aus, die Paketvermittlung – die dem Internet zu Grunde liegende Technologie – würde nicht funktionieren. Des Weiteren glaubten sie, es bestehe nur geringer Bedarf für auf dem Internet basierende Dienstleistungen. Die Technikexperten des Unternehmens zogen die Schlussfolgerung, das Internet sei unbedeutend für die Telefonie und habe auch in keinem anderen Zusammenhang kommerzielle Bedeutung.
Hätten die Entscheidungsträger von AT&T alternative Szenarien in Betracht gezogen, wären sie möglicherweise zu einer anderen Schlussfolgerung gekommen. Zum Thema Technologie und Telefonie hätten sie beispielsweise den Huber-Bericht für die US-Regierung lesen können, in dem untersucht wurde, wie das, was das Internet werden sollte, möglicherweise die Telefonie neu strukturieren könnte. Bei dem Bericht – von einigen Experten abgelehnt, von anderen hoch gelobt – handelte es sich um ein glaubwürdiges Dokument, und AT&T hätte ein Szenario entwickeln können, in dem die Ergebnisse des Berichts als korrekt zu Grunde gelegt wurden. Ihnen lagen Ergebnisse, überzeugende Recherchen und Analysen vor, die sie dazu hätten bewegen können – und sollen –, ein Szenario zu entwickeln, das ihre auf technischen Gesichtspunkten basierenden Einschätzungen herausgefordert hätte.
Zweitens ignorierte AT&T die erhebliche Arbeit, die bereits im Bereich der Entwicklung des direkt zwischen Unternehmen stattfindenden elektronischen Handels geleistet worden war. Es hätte beispielsweise untersucht werden können, welche Möglichkeiten es für Unternehmen gab, ihre Aktivitäten neu zu strukturieren, neue Dienstleistungen anzubieten, auf neuen Wegen miteinander in Verbindung zu treten und neuen Bedarf für onlinegestützte Geschäftsdienstleistungen zu schaffen. Es hätte keiner grossen Anstrengung bedurft, um die Verbesserungen in der Effizienz darzustellen, die in diesem (nunmehr realen) Szenario möglich wurden.
Die Planer bei AT&T hätten den Entscheidungsträgern zwei Szenarien vorstellen können. Eines davon wäre die offizielle Zukunft gewesen, in der weiterhin eine zentral geschaltete Architektur dominiert hätte. Daneben wäre auch die Entwicklung einer Alternative denkbar gewesen, in der neue Märkte für Internetdienste und neue Arten der Telefonie die bis dahin dominierende Netzwerkarchitektur herausforderten. Ein solches Szenario hätte den Entscheidungsträgern mindestens eine Vorstellung von dem Potenzial des Internets vermittelt und sie damit veranlasst, die Entscheidung als schwerwiegender einzustufen und möglicherweise eine grundlegend andere Schlussfolgerung zu ziehen.
Szenarien sind nicht nur nützlich, wenn es darum geht, spezifische Entscheidungen zu treffen, sondern sie ermutigen Entscheidungsträger auch zu einer sehr viel grösseren Sensibilität gegenüber neuen Signalen für Veränderungen. Was nicht vorhergesehen wurde, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht zur rechten Zeit gesehen. Szenarien können dazu dienen, Entscheidungsträger dahin gehend zu trainieren, Signale rechtzeitig zu erkennen. Selbst wenn AT&T angesichts der Unsicherheit die gleiche Entscheidung getroffen hätte, wäre es dem Unternehmen möglich gewesen, sich mit der Entwicklung von Router-Technologie und Onlinediensten dagegen abzusichern, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. AT&T wäre dann in der Lage gewesen, zu einem frühen Zeitpunkt sowohl Cisco Systems, einem Computer-Netzwerk-Unternehmen, als auch AOL, dem Internet-Serviceprovider, ernsthaft Konkurrenz zu machen, denn zu der Zeit wurde das Internet bereits zunehmend erkennbar. Und für ein Unternehmen, das die Operationen von AOL, Yahoo, dem Pionier unter den Suchmaschinen, und Cisco in einer Hand vereinigt, muss es die Spekulation über die Möglichkeiten wert sein. AT&T traf die grundlegend falsche Entscheidung, weil dort niemals ernsthaft alternative Szenarien in Betracht gezogen wurden.
Ein anderes Beispiel zeigt, wie Szenarien einen Rahmen für Gedankengänge liefern können, die Flut von Informationen auf der Suche nach den Fakten mit wirklichen Konsequenzen durchzusieben. Vor einigen Jahren begann ein hoch entwickeltes Technologieunternehmen, die Zukunft einiger seiner Schlüsseltechnologien sowie seine Strategien im Bereich Forschung und Entwicklung einer genauen Prüfung zu unterziehen. In Workshops, die das Ziel hatten, diesen Prozess zu vereinfachen, entspannen sich Diskussionen über das Potenzial von Brennstoffzellen, das menschliche Leben verlängernder Biotechnologie sowie Nanotechnologie.
Die Teilnehmer aus der technischen Führungsspitze verwarfen zumeist das Potenzial dieser neuen Gebiete. Jedoch entwickelten sie eine Vielzahl von Szenarien, in denen das Zusammenspiel technischer Entwicklungen und der Marktakzeptanz beleuchtet wurde. Diese beschäftigten sich mit der Möglichkeit, dass es zu raschen Fortschritten bei frühzeitiger Annahme von Technologien kommen würde oder dass der technische Fortschritt langsamer sein oder sich sogar ernsthafter Widerstand am Markt auftun könnte. Jedes dieser Szenarien stellte sich auf seine Weise als scharfsichtig heraus und bereitete die Führungskräfte – trotz ihrer anfänglichen Skepsis – auf frühe Anzeichen für Veränderungen vor und darauf, deren Bedeutung zu erkennen.
In den darauf folgenden Monaten berichteten Mitglieder der technischen Gruppe darüber, dass Informationen über diese Szenarien aus dem Hintergrund zu treten begannen. Artikel aus Tageszeitungen, Zeitschriften und Magazinen über Nanotechnologie, Brennstoffzellen, Lebensverlängerung und genetisch modifizierte Organismen tauchten immer häufiger auf. Innerhalb eines Jahres änderte man die Ansichten über das Potenzial dieser neuen Technologien und brachte erfolgreich Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung in zwei Bereichen auf den Weg – und das entscheidend früher als die Konkurrenten auf dem Markt.
Technologischer Fortschritt
Die Szenarien gaben den technischen Führungskräften ein vertrautes Konstrukt an die Hand, in das neue Daten eingefügt werden konnten und dann Sinn ergaben. Da die Gruppe die detaillierten, wenn auch hypothetischen Konsequenzen einer Akzeptanz dieser Technologien in grossem Umfang in Betracht gezogen hatte, war sie in der Lage, sehr viel fundiertere Aussagen über die real stattfindende Entwicklung zu treffen.
Das Szenario erwies sich als Hilfsmittel, das es ihnen ermöglichte, neue Informationen rechtzeitig wahrzunehmen, bedeutende Signale für Veränderungen zu erkennen und die Bedeutung dieser Veränderungen für ihre eigene Organisation zu verstehen. Sie waren infolgedessen in der Lage, die offen zu Tage liegenden Risiken der neuen technologischen Möglichkeiten neu einzuschätzen.
Szenarien dienen nicht nur dem unmittelbaren Prozess der Entscheidungsfindung, sondern sie führen auch zu graduellen Veränderungen in den Wahrnehmungsmodellen der Entscheidungsträger selbst.
Entscheidungsträger können ihre Wahrnehmung neu gestalten und ihre Ansichten überarbeiten, schliesslich auch ihre Schwerpunkte ändern, auch während sie sich vorwärts bewegen. Auf diese Weise können Szenarien ihre Wirkung also kurzfristig entfalten, indem sie eine fundiertere unmittelbare Entscheidung ermöglichen, aber auch auf lange Sicht, indem Entscheidungsträger ihre mentalen Landkarten neu gestalten.
ZUR PERSON:
Peter Schwartz ist Vorsitzender des Global Business Network (www.gbn.org) und Autor von «The Art of the Long View». Er ist ehemaliger Leiter der Szenario-Planung bei Royal Dutch / Shell.
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