Vielleicht können Sie sich noch an Karl Dellberg erinnern. Dellberg war der erste Sozialdemokrat im Walliser Grossen Rat und der erste Walliser Sozialdemokrat im Nationalrat. Er war ein politischer Feuerkopf. Auch mit über achtzig trat Dellberg noch mal an. Man nannte ihn den «Löwen von Siders».
50 Jahre später geht in Sizilien eine ähnliche Raubkatze um. Leoluca Orlando ist Bürgermeister von Palermo, zum vierten Mal gewählt und gefürchtet als Kämpfer gegen Mafia und Müll. Er ist auch schon über siebzig. Man nennt ihn den «Löwen von Palermo».
Zähe Burschen, die unbeirrbar ihren Weg gehen, bekommen mitunter das Attribut desLöwen zugeteilt. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Löwen, von Heinrich demLöwen im 12. Jahrhundert, dem Herzog von Sachsen, bis zu Lee Kuan Yew, dem «Löwenvon Singapur», der den südasiatischen Erfolgsstaat gründete.
Den Beinamen des Löwen bekommen meist autoritäre Typen, die aber gleichzeitig in ihrem Umfeld beliebt sind und bewundert werden.
Der Tiger ist das Gegenteil des Löwen
Damit kommen wir zur zweiten grossen Raubkatze auf unserem Planeten. Der Tiger ist das Gegenteil des Löwen. Tiger sind im Gegensatz zu Löwen keine Vorbilder. Es gibt keine historischen Persönlichkeiten, die mit dem Attribut eines Tigers geschmückt wurden. Bis heute ist der Einzige von Belang, der mir einfällt, der Golfprofi Tiger Woods.
Löwen (Panthera leo) und Tiger (Panthera tigris) sind eng verwandt, aber sie sind charakterlich weit entfernt. Tiger sind Einzelgänger, die autistisch leben. Ihr einziger nennenswerter Sozialkontakt ist die Paarung mit einem Weibchen. Diese Hochzeit findet etwa alle drei Jahre statt und dauert maximal zwei Tage. Dann lebt der Tiger wieder für weitere drei Jahre in der Einsamkeit.
Tiger haben kein Familienleben und keine Freunde. Das hat auch kulinarische Konsequenzen. Sie werden nicht eingeladen, und es gibt keine Gattinnen, die das Essen herbeischaffen. Tiger sind Junggesellen, die alleine in der Küche stehen und sich Fastfood zubereiten, etwa ein Wildschwein, das gerade des Weges kommt.
Bei den Löwen ist das komplett anders. Sie leben in Grossfamilien, mit ein paar Weibchen, mit Cousins und eigenen oder fremden Kindern, die sie im Rudel souverän an der langen Leine führen. Sie schlafen sechzehn Stunden pro Tag. Wenn sie Hunger haben, schicken sie gerne die Weibchen vor, die dann das Dinner anschleppen müssen. Eine frische Gazelle kann nie schaden.
Damit wären wir bei Tiger Woods. Er gehört, zusammen mit Roger Federer, Lionel Messi und Cristiano Ronaldo, zu den bekanntesten Sportlern der Welt. Aber er ist ein Tiger.
Woods ist ein Einzelgänger, der sich nicht in ein Team einfügen kann, er schweigt, wenn man ihn etwas fragt, er hat keine Führungsqualitäten. Seine frühere Familie hat er nach allerlei Solopartien verlassen, denn er jagt wie ein echter Tiger lieber allein. Figuren wie Federer, Ronaldo und Messi hingegen sind Löwen und leben als dominante Patriarchen in Grossfamilien. Federer hat zweimal Zwillinge. Messi lebt mit drei Kindern und einer unüberblickbaren Kohorte von Messis zusammen. Ronaldo hat vier oder fünf Kinder, so genau weiss man das nicht, und überall schwirren Mütter, Leihmütter und Verwandte herum.
Wenn man Ihnen im Betrieb also sagt, Sie seien ein Löwe, dann freuen Sie sich. Wenn man Ihnen sagt, Sie seien ein Tiger, dann kündigen Sie.
Tiger sind Junggesellen, die alleine in der Küche stehen und sich Fastfood zubereiten, etwa ein Wildschwein, das gerade des Weges kommt.