Er kann kaum stillsitzen. Denn nichts hasst Peter Grünenfelder mehr als Stillstand. Deshalb ist er auch immer auf Achse, fast jeden Tag, fast jeden Abend. Von Lausanne bis Chur, von Lugano bis St. Gallen besucht er Unternehmer, Wissenschaftler und Politiker. Tritt im «Rössli» auf und im «Beau Rivage», spricht mit Bundesräten und Gemeindeparlamentariern. Kaum ist Grünenfelder da, ist er auch schon wieder weg. Denn die nächsten Termine rufen. Und er will sie alle wahrnehmen. Damit sich in dieser Schweiz endlich wieder etwas bewegt. Das ist schliesslich sein Job, deshalb hat ihn der Stiftungsrat vor zwei Jahren an die Spitze von Avenir Suisse berufen – und mit ihm ausgerechnet einen Verwaltungswissenschaftler und Staatsbeamten zum Chef der Denkfabrik der Wirtschaft gekürt.

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Mit Absicht: Denn gesucht wurde jemand, der sich auskennt in den «Scharnierfunktionen» zum Staat, wie es der Berater Thomas Hammer ausdrückt, Mitglied im Avenir-Suisse-Stiftungsrat sowie in dessen Nominationsausschuss. Jemand also, der sicherstellen sollte, dass die Reformvorschläge von Avenir Suisse nicht ungelesen in den Schubladen verstauben, sondern vermehrt in die politischen Prozesse einfliessen. Kurz: Die Stiftungsräte wollten mehr «Policy Impact» für die 5,5 Millionen Franken, die sie jährlich für die Denkfabrik aufwerfen.

Gern gesehene Gäste

Und Grünenfelder, gefunden mit Hilfe von Egon-Zehnder-Headhuntern, hat ihnen genau das versprochen. Dafür hat er sein Beziehungsnetz aktiviert – und trifft sich nun regelmässig mit Regierungsmitgliedern auf Bundes- und Kantonsebene. Hier ortet er die grösste Hebelwirkung: Denn auf diesem Weg kann eine Idee bereits in eine Vorlage einfliessen, bevor sie überhaupt ins Parlament kommt.

Grünenfelder und seine Mitstreiter sind in vielen Verwaltungseinheiten gern gesehene Gäste – ihre Meinungen zur Hochschulpolitik, zu Spitallisten oder zu effektiveren Sparansätzen mittels «Schattenbudget» sind gefragt. Und so kommt Grünenfelder gar nicht mehr aus dem Aufzählen raus, wo überall die Ideen von Avenir Suisse in den letzten zwei Jahren, also seit er Chef ist, Einzug gehalten haben.

Die Stiftungsräte jedenfalls sind zufrieden – und verweisen auf den Zulauf bei den Geldgebern: Die Zahl der «Förderer» stieg von 129 auf 155. Jede dieser Firmen, Organisationen und Einzelpersonen zahlt Jahr für Jahr einen fünf- oder gar sechsstelligen Betrag ein. «Ein Rekord», sagt Hammer, der die Förderstiftung, das Avenir-Suisse-Finanzierungsvehikel, präsidiert.

Avenir Suisse Stiftungsrat

Avenir-Suisse-Stiftungsrat: Präsident des Nominationsausschusses Thomas Knecht, Vizepräsident Markus Neuhaus (oben v.l.), Präsident Andreas Schmid und Präsident der Förderstiftung Thomas Hammer (unten v.l.).

Quelle: Günter Bolzen

Verbreiterung der Förderbasis

Gegründet wurde die Stiftung im Sommer 2000 von 14 Unternehmen. Die Konzerne, von ABB über Nestlé, Novartis, Roche und die beiden Grossbanken bis zur in der Zwischenzeit in Konkurs gegangenen Swissair-Mutter SAirGroup, schossen ein Startkapital von 50 Millionen Franken ein, so wie es zuvor der damalige Nestlé-Finanzchef Mario Corti, der geistige Vater von Avenir Suisse, 1999 in der «NZZ» skizziert hatte. 2004 entschieden die Stiftungsgründer, den Förderkreis zu öffnen. So schlossen sich immer mehr Unternehmen an, die mit ihren Jahresbeiträgen die laufenden Kosten begleichen.

Die Verbreiterung der Förderbasis sei Voraussetzung für die Verankerung von Avenir Suisse in der ganzen Schweiz, sagt Hammer. Vermehrt versucht er deshalb auch KMUs anzusprechen – sodass aus der Denkfabrik der Konzerne eine für die ganze Wirtschaft wird. Eine breitere Basis sei auch wichtig für die Freiheit der Forscher, ergänzt der Avenir-Suisse-Vize und PwC-Schweiz-Präsident Markus Neuhaus. «Je breiter der Förderkreis, desto geringer die Abhängigkeit von einzelnen Unternehmen, desto grösser die Unabhängigkeit des Thinktanks.»

Generationenwechsel

Nebst seinem grossen politischen Netzwerk sprach bei Grünenfelders Wahl noch ein zweites Argument für den neuen Direktor: Er hatte den Ruf, alles auf den Kopf zu stellen, wo auch immer er hinkam. Das hat er bei der Stadtzürcher Polizeidirektion gemacht, als Staatsschreiber im Kanton Aargau – und nun auch bei Avenir Suisse, als er den Job im April 2016 antrat.

Kaum war er da, mussten andere gehen. Gerhard Schwarz, sein Vorgänger, wurde aufgefordert, sein Büro zu räumen, das man ihm eigentlich noch zugestanden hatte. Die altgedienten Ökonomen Peter Buomberger, Alois Bischofberger und Rudolf Walser, die nach ihren Karrieren bei UBS, CS respektive Economiesuisse für Avenir Suisse arbeiteten, wurden mehr oder weniger nett hinauskomplimentiert. Und der emeritierte Professor Silvio Borner flog aus der Programmkommission, dem akademischen Kontrollgremium des Thinktanks. Zu den einzelnen personellen Rochaden will sich Grünenfelder nicht äussern, nur so viel: «Der Stiftungsrat gab mir den Auftrag, das Team zu verjüngen.»

Zwischen den Zeilen wird aber klar: «Verjüngen» ist für Grünenfelder nicht nur eine Frage des Alters, sondern vor allem eine Frage der Einstellung. «Jung» bedeutet fortschrittlich und reformfreudig, steht für Leute, die eine stärkere aussenwirtschaftliche Öffnung für unumgänglich halten und die – wie es Grünenfelder gerne militärisch ausdrückt – «in die nächste Geländekammer blicken». Die «Alten» wiederum sind konservativ, klammern sich am Status quo fest und stemmen sich – mit der weit verbreiteten Schweizer Selbstgefälligkeit – gegen jegliche weiteren Öffnungsschritte gegenüber dem Ausland.

Praxisnah und Brav

Avenir Suisse unter Grünenfelder: Das sind mehr Förderer, mehr Medienartikel, mehr Vorträge, mehr Treffen – das ist grundsätzlich mehr von allem. Die Denkfabrik ist unter ihm aber auch klar praxisorientierter geworden und näher ans Tagesgeschäft gerückt. Und sie breitet sich dort aus, wo Economiesuisse an Terrain verliert. Das wiederum ist eine Entwicklung, die nicht allen passt. Avenir Suisse sei politisch gesehen zu pragmatisch und brav geworden, zu angepasst, zu wenig mutig, zu FDP-nah.

Die Kritiker wünschen sich deshalb die Zeiten von Thomas Held zurück, dem Avenir-Suisse-Gründungsdirektor. Held war ein Visionär, ein Revoluzzer, ein Liberaler mit 68er-Wurzeln, der immer für eine Überraschung gut war. «Er störte den Gottesdienst», wie es ein ehemaliger Mitarbeiter formuliert, er war unberechenbar. Und er hatte den Mut, sich mit allen anzulegen, auch mit den Geldgebern.

Unvergessen ist die Episode, als sich die Denkfabrik 2008 aus liberaler Überzeugung für Parallelimporte aussprach. Die Pharmaindustrie tobte, die beiden Avenir-Suisse-Mitgründer Novartis und Roche verliessen den Förderkreis – und kehrten erst 2014 unter dem Präsidium von Andreas Schmid wieder zurück. Der Streit war gut fürs Image, befreite die Denkfabrik vom Etikett, der verlängerte Arm der Konzerne zu sein. Aber «es war eine heftige Zeit», wie sich ein Involvierter erinnert.

Thomas Held

Thomas Held machte Avenir Suisse mit Provokationen bekannt

Quelle: Keystone

Ruhe und Vertrauen

Vielleicht fiel nach zehn wilden Held-Jahren deshalb die Wahl auf Gerhard Schwarz, den langjährigen «NZZ»-Wirtschaftschef. Ein brillanter Analytiker, wie ihm alle attestieren, ein Theoretiker, welcher der Institution bei der eigenen Klientel hohe Glaubwürdigkeit verlieh – und Ruhe zurückbrachte. Zu viel Ruhe.

Überraschungen gab es jedenfalls kaum mehr, und falls doch, dann höchstens solche, die nicht wehtaten. Schwarz stellte intern einiges um: Während Avenir Suisse unter Held – sehr oft zusammen mit externen Wissenschaftlern – vor allem Bücher publizierte, setzte sein Nachfolger vermehrt auf die kurze Form: auf Diskussionspapiere und Blogbeiträge statt auf Wälzer.

Zudem stockte er das interne Personal auf, damit die Expertise im Haus blieb. Heute arbeiten 35 Personen für den Thinktank, zusammen haben sie im vergangenen Jahr nicht weniger als 329 Studien, Papers, Kolumnen und Online-Artikel veröffentlicht.

Gerhard Schwarz

Gerhard Schwarz brachte danach Ruhe und Vertrauen.

Quelle: Keystone

Tabus brechen

Die Denkfabrik sollte, so formulierte es Corti, immer wieder die Grenzen zwischen Staat und Markt ausloten und «grundlegende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen frühzeitig (…) erörtern». Aber von Zeit zu Zeit sollte sie «vielleicht etwas provozieren, um Diskussionen über neue Themen und Thesen auszulösen». Und das hat Avenir Suisse offensichtlich vor – mit seinem «Weissbuch» zum Reformstau im Innern und vor allem zur Europafrage. Darin werden mehrere Szenarien durchgerechnet und ihre ökonomischen Auswirkungen für die Schweizer Volkswirtschaft abgeschätzt: von der totalen Abschottung bis zum EU-Beitritt.

Klar ist, dass Avenir Suisse unter dem neuen Direktor Tabus brechen will und für einen grossen Schritt Richtung Integration plädiert. Die bisherige, am Status quo orientierte Position, die Gerhard Schwarz und Rudolf Walser erst Anfang April in einem Gastbeitrag in der «NZZ» erneut wiederholt haben, gehört damit der Vergangenheit an.

Grünenfelder wiederholt, dass es bei den Forschungsarbeiten von Avenir Suisse letztlich immer darum gehe, Wege aufzuzeigen, welche die Prosperität im Lande auch langfristig sicherstellen. Und dazu dürfe es keine Denkverbote geben, sagt er. Und macht sich davon. Zum nächsten Termin.

Thinktanks in der Schweiz

Foraus

Das von Nicola Forster und Johan Rochel 2009 gegründete Forum Aussenpolitik publiziert wissenschaftliche Arbeiten, die als Handlungsempfehlungen für Aussenpolitiker dienen sollen und von den Mitgliedern ehrenamtlich erstellt werden.

GDI

Das Gottlieb Duttweiler Institute erforscht «Megatrends und Gegentrends» in Wirtschaft und Gesellschaft – und konzentriert sich dabei vor allem auf Fragen zu Handel und Konsum. Geleitet wird der 1962 initiierte und vom Migros-Kulturprozent mitfinanzierte Thinktank von David Bosshart.

GLP Lab

Das Denklabor der Grünliberalen Partei wurde 2016 gegründet. Geschäftsführerin ist Corina Gredig, präsidiert wird der Thinktank, bei dem ausser der Chefin alle pro bono forschen, von der Nationalrätin Kathrin Bertschy. Einen regen Austausch unterhält das GLP Lab mit dem Neos Lab in Österreich.

Liberales Institut

Die Denkfabrik verfolgt seit ihrer Gründung 1979 das «Ziel der Erforschung freiheitlicher Ideen». Geleitet wird sie von Pierre Bessard und seinem Vize Olivier Kessler, der als «No Billag»-Initiant bekannt wurde.

Max Schmidheiny Stiftung

Die 1978 lancierte und heute von Thomas Schmidheiny präsidierte Stiftung fokussiert ihre Kräfte auf die «Schweiz 2030 – Zukunft der Freiheit». Sie ermöglicht eine Professur für Unternehmertum und Risiko an der Uni St. Gallen und führt Foren in Bad Ragaz durch, um den Austausch zwischen Unternehmern, Politikern und Zivilgesellschaft zu fördern.

Progress Foundation

Die 1973 von Edward Harwood in Lugano ins Leben gerufene Stiftung organisiert Vorträge, Workshops, unterstützt Forschungsprojekte, ermöglicht Publikationen und vergibt Stipendien für das Sommerprogramm bei der Schwesterorganisation American Institute for Economic Research. Präsident ist Gerhard Schwarz, Vizepräsident Konrad Hummler.

StrategieDialog21

Der Unternehmer und Rehau-Lenker Jobst Wagner hat die Stiftung 2013 als Dialogplattform lanciert, auf der sich Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft treffen sollen. Gemeinsam, so die Hoffnung, könnten diese neue Impulse setzen – also als Ideengeber fungieren, auch für Thinktanks.

W.I.R.E.

Das 2008 von Stephan Sigrist gegründete «Web for Interdisciplinary Research & Expertise» will neue Trends früh erkennen und daraus Handlungsempfehlungen für Firmen und öffentliche Institutionen ableiten. Wichtiger Förderer des Thinktanks war der Banker Burkhard Varnholt – respektive dessen frühere Arbeitgeber Sarasin und Julius Bär.