Schon am Anfang bereitete er sich auf das Ende vor. «Mir war klar, dass die Lebensdauer eines CEO keine 20 Jahre beträgt», sagt Giovanni Leonardi. Der ehemalige Alpiq-Chef rechnete mit fünf bis zehn Jahren – am Ende waren es sieben. Und er war vorbereitet: Als von einem auf den anderen Tag alles weg war – der Chauffeur, die Assistentin, die Auslandreisen –, hatte Leonardi längst einen Businessplan für seine Zeit danach entwickelt. «Ich fiel in kein Loch, weil ich darauf achtete, dass jeder meiner Tage voll verplant war.»
Die Hintergründe über seinen Abgang sind nicht bekannt. Es wurde Stillschweigen vereinbart. «Die Situation war ausweglos», sagt der Tessiner nur. Die Kündigung verfasste er jedenfalls selber. Der jahrelange Machtkampf mit Alpiq-Präsident Hans Schweickardt spielte eine grosse Rolle. Während fünfzehn Monaten durfte Leonardi keinen Job in der Energiebranche annehmen. Stattdessen durchlief er seine «Entgiftungsphase» mit vielen Bergtouren und sozialen Kontakten.
«Am Anfang war es nicht so einfach»
Zu Hause gewöhnte sich seine Frau langsam wieder an die Anwesenheit ihres Mannes. «Am Anfang war es nicht so einfach», sagt der 55-Jährige. Das eine oder andere gab es damals auch, was er an seinem alten Job vermisste: kurzfristig nach Paris oder Prag zu fliegen oder der Assistentin Aufgaben zu übertragen.
Heute führt Leonardi sein eigenes Energieberatungsunternehmen und sitzt in neun Verwaltungsräten. Mehr als einmal stand er auf der Shortlist für einen CEO-Posten, wurde aber nie gewählt. «Zum Glück, muss ich im Nachhinein sagen.» Denn durch seine zeitraubende Arbeit bei Alpiq habe er damals viele Freundschaften nicht mehr gepflegt.
Neue Konzernausrichtung
Dass Konzernchefs ihren Posten räumen müssen, wenn die Unternehmenszahlen nicht mehr stimmen oder Ziele nicht erreicht werden, ist bekannte Praxis. Passt der Chef plötzlich nicht mehr richtig zur Konzernausrichtung, ist das ebenfalls ein Grund, sich von ihm zu trennen. So passiert im März beim Industriekonzern OC Oerlikon. Unerwartet verliess CEO Brice Koch das Unternehmen und schied damit weniger als zwei Jahre nach seinem Antritt aus. Nebst schlechten Zahlen wurde als Grund die Neuausrichtung des Konzerns genannt: Mit Kochs Nachfolger, Roland Fischer, wurde ein «ausgewiesener Industriefachmann» ins Unternehmen geholt.
Dass der unfreiwillige Rücktritt eines Managers oft auch eine menschliche Tragödie nach sich zieht, liess der Selbstmord von Martin Senn nur erahnen. Ende Mai, ein halbes Jahr nachdem der Zurich-CEO seinen Rücktritt angekündigt hatte, nahm er sich das Leben. Der Absturz aus der Konzernspitze schmerzt. Die Fallhöhe ist gross, der Aufprall heftig. Wie die betroffene Person mit der oft persönlich empfundenen Niederlage umgeht, ist individuell, persönlich, privat.
Persona non grata
Einen Augenschein geben bekannte Fälle aus der Schweizer Wirtschaft, speziell aus der Finanzbranche. Einen derben Karriereknick musste Peter Wuffli einstecken, als er 2007 seinen Rücktritt bei der UBS bekannt gab. In der Schweiz galt er nach seinem Abgang lange als Persona non grata. Als 19-Jähriger bekam Wuffli den Sturz des Vaters bei der Schweizerischen Kreditanstalt (heute CS) hautnah mit. Dass ihn später ein ähnliches Schicksal ereilte, erscheint schon fast tragisch. Wuffli tauchte ab, um nach einiger Zeit die Elea-Stiftung für karitative Zwecke zu gründen und bei der Partners Group Präsident zu werden.
Eine kurze Verweildauer war seinem Nachfolger bei der UBS, Marcel Rohner, gewährt. Knapp zwei Jahre sass er auf dem Chefsessel, verliess die Grossbank inmitten der Finanzkrise auf eigenen Wunsch. Halt in dieser schweren Zeit hätten ihm seine Familie und das enge soziale Umfeld in seiner Heimatstadt Aarau gegeben, heisst es aus seinem Bekanntenkreis. Dennoch soll er mit dem Gedanken gespielt haben, die Schweiz vorübergehend zu verlassen.
Nach einer Übergangsphase entschied er sich, seine Immobilienfirma weiter auszubauen, und gründete zudem eine Beteiligungsgesellschaft. Bis heute ist er dort aktiv. Neben anderen Verpflichtungen sitzt er im Verwaltungsrat der Genfer Vermögensverwaltungsbank UBP, der kotierten Immobiliengesellschaft Warteck Invest und von Thomas Matters Neuer Helvetischer Bank.
Andere Manager verliessen nach ihrem Abgang die Schweiz – einige für immer, andere nur vorübergehend. Der ehemalige Swissair-CEO und -Verwaltungsratspräsident Mario Corti etwa wanderte 2003 nach der Liquidation der Airline aus, um in den USA sein Glück als Fluglehrer zu suchen. Mit seiner Frau lebt er bis heute in Georgia. Daniel Vasella zog es nach seinem Rücktritt bei Novartis zuerst in die Vereinigten Staaten und dann sogar bis nach Uruguay, wo er sich als Rinderzüchter versucht. Mittlerweile ist der Manager in die Schweiz zurückgekehrt.
Abgang als Chance
Den Abstand von Land und Leuten suchte auch Armin Meier. Den ehemaligen Kuoni-CEO zog es nach seinem Abgang Ende 2007 für zwei Jahre nach England. «Ich wollte Abstand zur Schweiz bekommen», sagt er heute. Sein Ausscheiden beim Reisekonzern habe ihn sehr beschäftigt. Die Zeit im Ausland sei für ihn eine gewisse «Cool-off-Periode» gewesen. «Als ich zurückkam und Boyden Schweiz übernahm, wurde das kaum mehr in der Presse kommentiert.»
Nicht mehr im Fokus der Presse zu sein, freute ihn. Die Phase nach Kuoni war für Meier eine Abschiedsphase, in der er eine Art von «Trauerarbeit» leistete und sich emotional von der Firma löste. «Man muss das Unternehmen lieben und alles geben», sagt er. Kuoni sei ein grosser Teil seines Lebens gewesen, entsprechend schwer fiel der Abschied. Zu erkennen, dass sein Abgang für ihn auch eine Chance war, brauchte Zeit. Doch Meier versuchte schon damals, den Entscheid anzunehmen. «Ich habe versucht, diese Phase für mich abzuschliessen, mich geistig frei zu machen. Denn es gibt keine Zukunft, wenn man mit der Vergangenheit nicht abgeschlossen hat.»
Seine Familie und seine Freunde hätten ihn dabei sehr unterstützt. Er selber musste sich neue Ziele setzen. «Wenn man von 180 auf null abgebremst wird, verändert einen das», sagt der 58-Jährige, der in seiner Findungsphase eine Bucket List zusammenstellte, auf die er alles schrieb, was er immer schon mal im Leben machen wollte: zum Beispiel besser Französisch lernen oder den Aletschgletscher bewandern. «Vieles habe ich gemacht, einiges ist noch offen. Aber es hat mir geholfen, mich mit meiner Situation zu versöhnen.»
Lücke produktiv nutzen
Als Inhaber der Executive-Search-Firma Boyden in der Schweiz erlebt Meier oft, wie schwer es Managern fällt, ihre bisherige Aufgabe loszulassen. Ihnen rate er, sich eine Auszeit zu nehmen. Diese Lücke sollte produktiv genutzt werden, um herauszufinden, welche Stärken man hat und was man noch erreichen möchte. Oft ergebe sich daraus eine ganz neue Landkarte des Lebens, so Meier. Dazu brauche man auch Mut und Gelassenheit. Er selber habe in seiner Orientierungsphase viel Selbstvertrauen gewonnen, sich neu definiert. «Ich habe viel Freude an meinem neuen Leben.» Seine Firma sei die letzten Jahre stetig gewachsen.
Natürlich gab es für Meier auch schwierige Momente. Wenn zum Beispiel Einladungen ausblieben oder Kontakte zu Geschäftsfreunden abrissen. Man frage sich dann manchmal, ob man noch relevant sei, aber «wenn man seine Emotionen einpacken kann und sich über das, was man alles tun kann, freut, ist man frei, nach vorne zu schauen», sagt er.
Jobverlust bedeutet Niederlage
Silvan Winkler meint, dass der plötzliche Verlust von Relevanz teilweise mit einem Identitätsverlust gleichgesetzt werden könne. Der Leiter für Mitarbeiter- und Organisationsforschung des Marktforschers GfK ist Betriebspsychologe und hat schon erlebt, dass geschasste Manager nicht einmal ihren Frauen erzählten, dass ihnen gekündigt wurde.
«Im ersten Moment gleicht die Entlassung einem Gesichtsverlust, einer Niederlage.» Bleibe dazu dann die Aufmerksamkeit weg, die über die Jahre ein Teil des Rollenverständnisses eines Managers geworden ist, könne das tief greifende Einflüsse auf die Person haben. «Die Selbstwahrnehmung kann sich verändern», sagt Winkler. Je stärker die Person mit ihrer Funktion verbunden sei, desto intensiver werde der Verlust wahrgenommen.
Menschen, die mit dieser einschneidenden Veränderung gut klarkommen, bezeichnet Winkler als resilient, sie würden am Ende gestärkt aus der Lebenskrise hervorgehen. Dazu spielten das familiäre und private Umfeld sowie die finanziellen Ressourcen eine grosse Rolle. «Wer seine Stelle verliert und auf das regelmässige Einkommen angewiesen ist, kann in eine Krise geraten. Bei dem, der finanziell versorgt ist, kann hingegen der Prestigeverlust viel schwerer wiegen», sagt Winkler.
Das neue Leben ordnen
Als Tomasz Romanowski sich entschloss, die Firma, für die er 23 Jahre gearbeitet hatte, zu verlassen, war der Entscheid ein schwerer. Der ehemalige IT-Manager hatte sich über die Jahre im Unternehmen hochgearbeitet. «Mir war klar, dass es irgendwann nicht mehr weiter in die Höhe geht», sagt er. Als sich die Firma neu ausrichtete, musste er sich entscheiden; und er entschied sich zu gehen.
Rückblickend das Beste, was er damals tun konnte. «Aber es war ein Schock. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht befördert wurde, sondern gegangen bin», sagt er. Den Entscheid besprach er im Vorfeld intensiv mit seiner Frau, denn er ernährte die Familie, bezahlte das Studium der Tochter. «Ich brauchte vier Wochen, um meine Situation zu verdauen», sagt der 57-Jährige. Dann rappelte er sich auf und begann, sein Leben zu ordnen, sich neue Ziele zu setzen – rückblickend sei es eine sehr wichtige Phase für ihn gewesen. «Ich hatte die Möglichkeit, etwas zu ändern, ich konnte entscheiden.»
Ein Jahr nach seinem Abgang hatte Romanowski bereits eine neue Stelle. Besonders Familie und Freunde hätten ihn in dieser Übergangszeit sehr unterstützt, ihm viel Energie gegeben. Dadurch habe er nicht das Gefühl, gescheitert zu sein.
Kultur des Scheiterns nur wenig etabliert
Im deutschsprachigen Raum ist die Kultur des Scheiterns nur wenig etabliert, sagt Betriebspsychologe Winkler. Anders als in den USA müsse man ein Allrounder sein. Das amerikanische System orientiert sich eher an den Stärken einer Person. «Der durchschnittliche Selfmade-Millionär in den USA ist vorher siebenmal bankrottgegangen. Das Scheitern gehört einfach dazu», sagt Winkler. Eine Arbeitskultur, die das Scheitern verurteilt, könne eine Depression hervorrufen. Es sei aber auch eine Sache des menschlichen Typs: Wer die Schuld konsequent bei sich suche, sei eher gefährdet, in eine Depression zu rutschen.
Damit es gar nicht erst so weit kommt, gibt es das Outplacement-Unternehmen Grass & Partner in Zürich. «Wir wollen unsere Kunden vor dem Loch bewahren», sagt Geschäftsführer André Schläppi. Diese haben meist gerade ihren Job verloren. «Die Leute sind am Boden, wenn sie zu uns kommen.» Oft wird ihnen die Beratung vom ehemaligen Unternehmen bezahlt.
Wer bin ich?
In mehreren Einzel- und Gruppengesprächen begleiten Schläppi und sein Team den Kandidaten auf seinem Weg in eine neue Anstellung oder die Selbständigkeit. In mehreren Sitzungen gilt es herauszufinden: Wer bin ich? Was will ich? Und welcher Weg führt ans Ziel? Im Durchschnitt habe der Kandidat nach einem halben Jahr wieder eine neue Stelle, so Schläppi.
Im vergangenen Jahr kamen 24 Prozent seiner Kunden aus einer geschäftsführenden Position, 25 Prozent aus dem oberen Kader. 28 Prozent aller Kandidaten waren zwischen 50- und 54-jährig. «Je älter, akademischer und höher positioniert eine Person ist, desto anspruchsvoller wird die Weitervermittlung.» Doch auch hier könne man Hilfestellungen bieten. Am Ende fänden mehr als 90 Prozent von Schläppis Kunden eine neue Herausforderung.
Für die Chefs der grossen Konzerne gibt es wiederum nach dem Ende wenig Unterstützung. Immerhin schafft die Chairman Mentors International (CMI) von Krister Svensson Abhilfe. Hier coachen VR-Präsidenten die gefallenen Konzernchefs. Denn nur sie verstehen, was es bedeutet, auf dem Chefsessel zu sitzen – dort oben, wo die Luft sehr dünn ist.
Mitarbeit: Philipp Albrecht