Als die Briten am 23. Juni entschieden, aus der EU auszuscheiden, sandte dies zunächst Schockwellen durch Europa. Aber in vielen Hauptstädten begann gleichzeitig das Nachdenken, ob der Brexit nicht auch eine Chance sein kann. Gut zehn Tage nach dem Referendum ist klar: Europaweit wachsen die Begehrlichkeiten. Der Brexit mag der Insel schaden, aber der Rest von Europa beginnt Grossbritannien als eine Art Restrampe anzusehen, die man möglicherweise ausschlachten kann. Ein Überblick:
Kampf um die Köpfe
Bereits vergangene Woche hat Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hinter den Kulissen die Idee ins Spiel gebracht, jungen Briten auf dem Kontinent jetzt die Staatsbürgerschaft der EU-Staaten anzubieten. Der Hintergedanke: Gerade viele junge, gut ausgebildete Briten würden gerne EU-Bürger bleiben, hatten beim Brexit-Referendum gegen einen Austritt gestimmt - und viele Länder auf dem Kontinent haben ihrerseits ein demografisches Problem. Die Verleihung der Staatsbürgschaft könnte also den Gastländern britischer Studenten und diesen selbst nutzen.
Am Samstag schloss sich auch SPD-Chef Sigmar Gabriel dieser Forderung an, auch bei den Grünen findet die Idee Anklang. Es geht auch um das politische Signal, dass die Briten weiter willkommen sind in der EU: «In dieser Zeit grosser Unsicherheit muss man den Bürgern so viel Gewissheit wie möglich über ihre Zukunft geben. Das gilt gerade für Alltagsfragen», sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Europäischen Parlament, Rebecca Harms, zu Reuters.
Dass die EU-Politiker damit einen Nerv treffen, zeigte sich bereits im Fall Irlands: Tausende Briten bemühen sich nach Angaben der Regierung in Dublin um einen irischen Pass, um EU-Bürger bleiben zu können. Am Montag berichtete «Bild», dass deutsche Kommunen schon vor dem Brexit-Referendum steigende Zahlen von in Deutschland lebenden Briten registrierten, die Deutsche werden wollen. Juristisch wäre dies kein Problem: Die Briten müssten ihren Pass nicht einmal zurückgeben, weil doppelte Staatsbürgerschaften in der EU kein Problem sind - und noch ist das Land ja Mitglied.
Ein Sonderfall sind die Wissenschaftler. Einige Ministerpräsidenten haben ihre Wissenschaftsminister bereits angewiesen nachzuschauen, was es auf der Insel zu holen gibt - schliesslich werden viele Forschungsprojekte gerade der Top-Universitäten mit EU-Geld gefördert. Niemand weiss derzeit, ob es diese Subventionen künftig noch geben wird. «Da gibt es etwas zu holen», sagte ein Ministerpräsident zu Reuters, der namentlich aber nicht genannt werden will. Zu stark will man das Resterampen-Rennen öffentlich nicht betonen.
Kampf um EU-Institutionen
Völlig klar ist, dass die in Grossbritannien noch sitzenden EU-Institutionen nach einem Brexit verlegt werden müssen. Dies betrifft etwa die erst 2011 gegründete Europäische Bankenaufsicht (EBA). Längst ist ein Rennen entbrannt, wohin die Behörde mit 159 Mitarbeitern gehen soll. Frankfurt gilt als einer der Favoriten. Der bayerische Finanzminister Markus Söder will die EBA dagegen lieber nach München holen. Andere argumentieren, dass ein anderes Land profitieren sollte, weil in Deutschland bereits die Europäische Zentralbank (EZB) sitzt. Italien macht sich Hoffnungen, als chancenreich gilt Spanien.
Auch die europäische Arzneimittel-Aufsicht EMA mit ihren 600 Mitarbeitern wird Grossbritannien im Falle eines Brexit verlassen. Unter anderen haben Deutschland, Schweden, Italien und Dänemark bereits Interesse geäussert.
Kampf um Firmen
Ungarn hat angekündigt, offensiv auf der Insel um die Verlagerung britischer Firmen nach Südosteuropa zu werben. Das Argument: Angesichts jahrelanger Verhandlungen sei nicht sicher, ob Grossbritannien am Ende noch vollen Zugang zum Binnenmarkt haben werde. Also solle man lieber gleich in einem EU-Land investieren. Auch die Berliner Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) wirbt bereits um Start-Up-Firmen.
Dies dürfte nur der Auftakt für Werbekampagnen von EU-Staaten und -Regionen auf der Insel sein, um Firmen aus dem Vereinigten Königreich wegzulocken. «Es kann durchaus sein, dass Berlin Gewinner des Brexit ist», sagte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) dem Berliner «Tagesspiegel». Indirekter verläuft das Werben bei multinationalen Firmen, künftige Investitionen in ihre Standorte auf dem Kontinent umzuleiten.
Kampf um Territorien
Die schottische Ministerpräsidentin Nicolas Sturgeon hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Schottland auf jeden Fall Teil der EU bleiben sollte - auch wenn die Regierung in London den Brexit-Antrag in Brüssel tatsächlich einreicht. In der EU demonstriert man Offenheit: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker traf sich bereits vergangene Woche in Brüssel mit Sturgeon. Zwar lehnen Spanien und Frankreich derzeit auch aus Angst vor eigenen separatistischen Bewegungen Verhandlungen mit Schottland ab. Dies könnte sich aber ändern, wenn Grossbritannien erst einmal aus der EU ausgetreten sein sollte.
(reuters/ccr)