BILANZ: Ist die Bewegung «Occupy Wall Street» schon in der Universität St. Gallen angekommen? Keine Besetzungen?

Florian Wettstein: Voll besetzt sind bei uns bis jetzt nur die Hörsäle.

Ist es kein Thema unter Ihren Studenten?

Wer Wirtschaft studiert, den muss das interessieren, denn im Kern geht es hier um der Wirtschaft zugrunde liegende Wertefragen, um Verteilungsgerechtigkeit und um Fragen der Integrität und des Professionalismus im Finanzsektor.

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Sie waren Professor in den USA. Weshalb wird gerade jetzt demonstriert?

Die Boni sind heute höher als vor der Krise. Trotzdem bleibt die Arbeitslosigkeit in den USA hoch, und täglich liest man von Stellenabbau im grossen Stil. Von der Rückkehr in die Gewinnzone spürt die breite Bevölkerung also wenig. Dies führt zu berechtigtem Unmut.

Hat «Occupy Wall Street» politische Folgen, oder ist es bloss ein Happening von Arbeitslosen, Studenten, Träumern?

Schwierig zu beurteilen. Klar ist aber, dass es in der Bevölkerung eine breite Sympathie gibt. Auch wenn nicht jeder auf der Strasse kampiert, wird die Empörung von vielen Menschen geteilt. Dies dürfte im Hinblick auf politische Veränderungen entscheidender sein.

Sie lehren seit ein paar Monaten in St. Gallen und haben Christoph Blochers akademische Karriere verhindert.

Habe ich das?

Er hat sich für den Posten eines Ethikprofessors beworben. Sie machten das Rennen; nun kehrt er ins Parlament zurück.

Dass er sich für die Stelle beworben hatte, kriegte ich in den USA mit. Er meinte es aber wohl nicht ernst mit seiner Bewerbung. Es machte eher den Eindruck, er mache sich lustig über die akademischen Gepflogenheiten. Ich denke, der Lehnstuhl im Stöckli wäre ihm lieber als der Lehrstuhl im «Elfenbeinturm».

Blocher hätte Erfahrung aus der Praxis mitgebracht. Diese haben Sie nicht.

Zweifellos hat er viel Managementerfahrung. Das allein qualifiziert ihn aber nicht zum Ethikprofessor. Ich fände es aber spannend, wenn er vor unseren Studierenden auftreten würde. Er ist herzlich eingeladen. Schreiben Sie das ruhig.

Es gab einen Skandal in St. Gallen, weil Ulrich Thielemann, früher Vizedirektor Ihres Instituts, in Berlin behauptete, die Schweiz habe als internationale Steueroase «keinerlei Unrechtsbewusstsein».

Das wurde zum Skandal hochstilisiert, und man hat aneinander vorbeigeredet. Thielemanns Position zur Steuerproblematik hat aus wirtschaftsethischer Sicht Hand und Fuss. Die Balance zwischen wissenschaftlichem Anspruch und realem Einfluss auf das Denken und Handeln in der Praxis ist in der Wirtschaftsethik aber oft besonders schwierig. Mit der Tür ins Haus zu fallen, kann sich kontraproduktiv auswirken. Mit einem etwas pragmatischeren Ansatz erreicht man im Endeffekt manchmal mehr.

Die Schweiz hat auf Druck des Auslands das Bankgeheimnis aufgeweicht. Das muss den Wirtschaftsethiker freuen.

Der Finanzplatz kann auch ohne Bankgeheimnis bestehen. Wenn dieses das einzige Geheimnis des Erfolgs des Schweizer Finanzplatzes wäre, dann wäre es schlecht um ihn bestellt. Eine progressive, proaktive Haltung zum Bankgeheimnis war für mich immer wünschenswert.

Proaktiv? Sie fordern den automatischen Informationsaustausch mit der EU?

Ich glaube nicht, dass der automatische Informationsaustausch mit Überlegungen des Datenschutzes unvereinbar sein muss oder gar zum «gläsernen Bürger» führt. Er wäre einem fairen und effizienten Wettbewerb in der international vernetzten Wirtschaft förderlich.

Sie plädieren für einen pragmatischeren Umgang mit den Unternehmen.

Nicht als Prinzip. Ich sehe aber auch kein grundsätzliches Problem in einem etwas pragmatischeren Vorgehen. Viele Firmen engagieren sich vor allem deshalb sozial, weil sie sich einen finanziellen Payoff versprechen. Das kann man als Wirtschaftsethiker entweder a priori als unehrlich aburteilen oder sich als ersten Schritt zur Förderung einer tieferen Einsicht und eines ernsthafteren Commitments nutzbar machen. Hier muss man sich im Umgang mit der Praxis auch mal kompromissbereit zeigen – ohne den kritischen Fokus aus den Augen zu verlieren.

Gibt es diese Bereitschaft in Firmen?

Schwierig abzuschätzen, denn lange sind wir noch nicht hier. Es scheint durchaus ein Interesse an dem zu geben, was wir tun. Einige Schweizer Firmen haben bei uns angeklopft, um Projekte auszuloten.

Zum Beispiel?

Volunteering ist ein Thema. Es geht dabei darum, gezielt eigene Mitarbeiter in soziale Projekte einzubinden. Für uns ist es ungemein bereichernd, mit Firmen zusammenzuarbeiten, die ethische Fragestellungen ernst nehmen. Zu diesem Zweck bieten wir ab Februar in St. Gallen einen zertifizierten Weiterbildungslehrgang in Corporate Social Responsibility für Praktiker an. So möchten wir gegenseitige Lernprozesse anstossen und sowohl an der Hochschule als auch in den Firmen etwas bewegen.

Ein Konflikt zwischen Ethik und Praxis ist die Gewinnmaximierung: Profit zulasten von Mensch und Natur, so die Kritik.

Moral und Profitstreben können im Widerspruch stehen. Oft tun sie es in der Praxis auch. Das müsste aber nicht zwangsläufig so sein. Eine auf moralischen Grundsätzen aufbauende Profitorientierung von Firmen ist unter Wettbewerbsbedingungen möglich. Sie muss es sein, sonst müssten wir mit dem Wirtschaften aufhören. Interessanterweise wird man sich des Spielraums im «ethical decision-making» gerade in den hochkapitalistischen USA bewusst.

Gibt es denn keine Interessenkonflikte?

Klar, hier treffen unterschiedliche Positionen und Interessenlagen aufeinander. Dann analysiert man, wo man etwas voneinander lernen kann. Nur so kann ein fruchtbarer Austausch zwischen Theorie und Praxis stattfinden. Kritisch sein heisst ja nicht einfach nur schulmeistern, sondern erfordert eine dialogische Grundeinstellung. Dazu muss man zuhören können und abweichende Ansichten ernst nehmen. Die University of St. Thomas in Minnesota, wo ich bis vor kurzem lehrte, verfolgt diesen Ansatz sehr erfolgreich. Die Ethikfakultät und das angeschlossene Center for Ethical Business Cultures pflegen den Austausch mit der Praxis sehr intensiv. Gemeinsame Symposien und Workshops zu ethischen Fragestellungen mit Ethics Officers oder dem Topmanagement von Milliardenkonzernen wie 3M, Medtronic oder Target sind keine Seltenheit. Alles Firmen, die in den USA als Vorzeigefirmen gelten.

Droht nach der Ökowelle die Ethikwelle?

Ethik kommt heute in der Öffentlichkeit und beim Konsumenten gut an. Das war nicht immer so. Da besteht die Gefahr, dass sie zu PR-Zwecken missbraucht und letztlich ihres Sinns entleert wird. Trotzdem: So schlecht ist das ja nun nicht, wenn die Ethik Wellen schlägt, oder?

Ein Frauenhaus in Thailand finanzieren – und schon ist man eine ethische Firma?

Klar genügen ein Mission Statement, ein Nachhaltigkeitsbericht und ein Hinweis auf der Website nicht. Die Kluft zwischen dem, was Unternehmungen sagen, und dem, was sie tatsächlich tun, ist auch heute noch oft sehr gross. Dennoch darf man die Langzeitwirkung solcher Projekte nicht unterschätzen: Selbst wenn dahinter in erster Linie PR-Überlegungen stünden, müsste sich eine Firma letztlich dennoch mehr oder weniger ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen, wenn der PR-Stunt nicht sofort als solcher entlarvt werden soll. Häufig beginnen so auch Lernprozesse.

Wie soll sich eine Schweizer Firma in China ethisch korrekt verhalten, Stichwort: Menschenrechte?

Wer in Ländern investiert, die systematisch Menschenrechte verletzen, setzt sich dem Vorwurf aus, indirekt daran beteiligt zu sein. In China hat sich zudem die Hoffnung leider nicht bewahrheitet, dass sich mit der wirtschaftlichen Verflechtung die Menschenrechtssituation verbessern würde. Die Hauptproblematik sehe ich vor allem bei den Internetfirmen wie Google, Yahoo oder Microsoft. Stichwort: Meinungsäusserungsfreiheit.

Fragen der Ethik stellen sich auch für eine Pillenfabrik in Shanghai.

Selbstverständlich. Politisch gesehen ist aber die Frage, wie sich eine Internetfirma in China verhält, ungleich relevanter, weil sie mit ihrem Kerngeschäft direkt Beihilfe zur Unterdrückungspolitik der Regierung leistet. Auch eine Schraubenfabrik soll sich aber an höheren Standards messen lassen, gerade in Bezug auf die Arbeitsbedingungen in der Supply Chain oder die Produktsicherheit.

Konkret?

Firmen, die in China investieren, übernehmen eine politische Mitverantwortung. Entsprechend sollten sie sich auf politischer Ebene einsetzen und Themen wie die freie Meinungsäusserung oder Sozialstandards thematisieren. Immerhin haben Firmen aus dem Westen vor Investitionsentscheiden kaum Skrupel, in ihren Gastgeberländern steuerliche Vorteile, Subventionen, billige Arbeitsplätze oder Infrastruktur einzufordern. Wieso sollte dies nicht für Menschenrechte gelten? Auch sie sind ein Teil der Bedingungen, die für Investitionsentscheide relevant sein sollten. Multinationale Unternehmungen bringen Kapital, Know-how und Arbeitsplätze ins Land. Das verschafft Einfluss. Zudem kann man mit konkreten Beispielen – interner Information, Sozialleistungen, ethischen Standards – ein Zeichen setzen. Eine globale Minimalethik verbietet, dass wir die systematische Verletzung von Menschenrechten wortlos hinnehmen.

Die Rechte der Frauen werden in Saudi-Arabien mit Füssen getreten. Was tun?

Wer in einem Land aktiv ist, das systematisch Frauen diskriminiert, riskiert seine Glaubwürdigkeit. Es riecht nach Hypokrisie, wenn man in Zürich Frauenförderung betreibt, in Riad aber genau das Gegenteil vertritt.

Was schlägt der Ethiker vor?

Ein Weg ist, Menschenrechtsgrundsätze auch für Unternehmen global zu definieren und einforderbar zu machen. Leider sind entsprechende Bestrebungen wiederholt gescheitert. Dabei erscheint es doch offensichtlich, dass mit zunehmender Macht der Konzerne eben nicht nur Staaten, sondern auch Firmen eine Verantwortung gegenüber Menschenrechten wahrzunehmen haben. Dazu gehören die fundamentalsten moralischen Ansprüche eines Menschen: Recht auf Leben, Recht auf Unversehrtheit des Körpers, also keine Folter, Recht auf freie Meinungsäusserung. Ich persönlich gehe einen Schritt weiter: Zunehmend werden auch soziale und ökonomische Rechte, etwa auf Nahrung oder Wasser, für Konzerne relevant. Firmen, die Versorgungsstrukturen kontrollieren, müssen sich über die gerechte Verteilung essenzieller Güter und Dienstleistungen Gedanken machen und sich in die Pflicht nehmen lassen. Die Pharmaindustrie etwa hat eine moralische Verpflichtung gegenüber der Dritten Welt. Ihr Auftrag ist es, dazu beizutragen, die «global burden of disease» nachhaltig zu reduzieren. Dazu braucht es innovative Geschäftsmodelle und adäquate öffentliche Strukturen. Für beides müssen sich Unternehmen einsetzen.

 

Florian Wettstein ist Ethikprofessor an der Universität St. Gallen und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik. Der 36-Jährige übernahm den Lehrstuhl von Peter Ulrich. Wettstein promovierte in Ökonomie und lehrte an der York University in Toronto und an der University of St. Thomas in Minnesota in den USA.