Von US-Notenbankchef Jerome Powell kennt man nur diesen einen Gesichtsausdruck: ernst und hoch konzentriert. Am 15. Juni schaut er sogar noch ein wenig ernster. Im Anschluss an die Fed-Sitzung in Washington spricht er vor der Presse, liest seine Rede von einem Zettelstapel ab und wirft dem Publikum immer wieder nur kurze Blicke zu. Zusammen mit dem Offenmarktausschuss hat er die Anhebung der Leitzinsen um 75 Basispunkte entschieden – die grösste Zinserhöhung seit 1994. «Natürlich ist die heutige Anhebung ungewöhnlich hoch, und ich erwarte nicht, dass Schritte dieser Grössenordnung üblich werden», sagte Powell noch wie zur Beruhigung der Märkte. Doch an den Anleihenmärkten ist schon seit Monaten nichts mehr, wie es war. Nach mehr als einem Jahrzehnt im Aufwärtstrend erleben Obligationen die schwächsten sechs Monate ihrer Geschichte. Für Anleger beginnt damit eine neue Ära. «Bonds are back!», wird zum Leitspruch der Stunde. Investoren bietet die neue Marktlage interessante Chancen.
Die Mittelflüsse zeigen, dass sie diese nutzen. Anleger wollen nicht mehr auf Anleihen verzichten. Asset Manager und Pensionskassen haben ihre Portfolios angepasst und den Obligationenteil nach Jahren erstmals aufgestockt. Die hohe Nachfrage nach Fonds und ETFs auf festverzinsliche Wertpapiere zeigt jedoch, dass sich auch Privatanleger wieder auf Bonds stürzen.
Kampf gegen die Inflation
Nicht nur in den USA, sondern auch in der Eurozone und der Schweiz haben die Notenbanken ihren expansiven Kurs verlassen. Die Bekämpfung der Inflation hat jetzt höchste Priorität. Im Juni überraschte die SNB die Märkte mit einer Anhebung der Leitzinsen um 50 Basispunkte – für den Herbst und den Winter rechnen Ökonomen mit weiteren Straffungen. Mit der hohen Teuerung haben sich die Erwartungen der Anleger an die Geldpolitik grundlegend verändert – und das innerhalb weniger Monate. Zu Beginn des Jahres hatten die Marktteilnehmer für das Jahresende die Leitzinsen in den USA bei 0,2 Prozent gesehen, für die Eurozone bei –0,5 Prozent. Seither haben sich diese Werte um etwa 350 Basispunkte erhöht. Phasenweise sind die Anleger von einem Zinssatz von 3,9 Prozent für die USA und einem Prozent für den Euroraum ausgegangen. Für festverzinsliche Papiere sind steigende Zinsen Gift. Die Aussicht auf höhere Renditen macht bereits emittierte Anleihen mit niedriger Verzinsung vergleichsweise unattraktiv, in der Folge fallen die Kurse. Der jüngste Einbruch an den Fixed-Income-Märkten spiegelt diesen Zusammenhang.
Bad old days
Anleger hatten sich in den vergangenen Jahren an eine neue Normalität gewöhnt. An eine Welt, in der Obligationen extrem niedrige oder sogar negative Renditen abwerfen. Investments also, mit denen Verluste von Anfang an programmiert waren. Absurd lange Laufzeiten, Emittenten mit schlechter Bonität – ganz egal, welche Risiken einzugehen Investoren bereit waren, mit einer angemessenen Verzinsung wurden diese Risiken nicht kompensiert. Das Volumen der Anleihen, die weltweit mit negativem Vorzeichen gehandelt wurden, belief sich Ende 2020 auf 17,5 Billionen Dollar. Über lange Phasen gab es am Markt für Schweizer Staatsanleihen keine Titel mit positiver Rendite. Dahinter steckte die beispiellos expansive Geldpolitik, mit der die Notenbanken auf die Finanzkrise von 2008 reagiert hatten. Nun scheint diese Ära – wenigstens kurzzeitig – vorüber zu sein. Die Zentralbanken heben die Zinsen an und lösen ihre gigantischen Anleihenbestände auf. Obligationen bieten wieder attraktive Verzinsungen, gleichzeitig haben die Rückschläge Teile dieser Anlageklasse auf interessante Bewertungsniveaus gedrückt.
Von den Höchstständen im Juli sind die Renditen inzwischen wieder zurückgekommen. «Es gab ein drastisches Repricing, und nun wird erwartet, dass die Zentralbanken die Zinsen über die nächsten Monate schneller erhöhen – dann aber auch wieder senken werden, um auf eine Rezession zu reagieren», sagt Roxane Spitznagel, Ökonomin bei Vanguard, dem weltweit zweitgrössten Vermögensverwalter. In den USA sind die Renditen für Treasuries mit zehn Jahren Laufzeit von 3,5 Prozent wieder unter 3 Prozent gefallen. Deutsche Bundesanleihen rentieren nach einem Peak bei 1,7 Prozent wieder knapp unter der Ein-Prozent-Marke. Diese hohe Volatilität zeigt, dass sich die Kapitalmärkte in einer Phase des Umbruchs befinden. Für Anja Hochberg, Leiterin Multi-Asset Solutions der Zürcher Kantonalbank Asset Management, ist die hohe Volatilität ein gesundes Signal: «Es zeigt, dass der Markt wieder anfängt zu funktionieren, dass Fundamentaldaten wieder zum Tragen kommen und nicht alles vom Wort der Notenbanken abhängt.»
Eine schwächere Konjunktur wird die Rolle von Anleihen als Risikopuffer wieder bestätigen.
Roxane Spitznagel, Vanguard
Es spricht einiges dafür, dass die Renditen in den kommenden Monaten weiter sinken werden. So rechnen die Marktbeobachter des auf Anleihen spezialisierten Asset Managers Bantleon damit, dass deutsche Bundesanleihen mit zehn Jahren Laufzeit in den kommenden zwölf Monaten von aktuell 1,0 auf 0,4 Prozent fallen werden. «Das mag unspektakulär klingen», sagt Stephan Kuhnke, CEO und Leiter Anlagemanagement bei Bantleon. «Es bedeutet aber einen Kursgewinn von sechs Prozent, hinzu kommen ein Prozent Verzinsung sowie der Laufzeitverkürzungseffekt – alles in allem ergibt sich ein Return von sechs bis sieben Prozent. Das werden die Aktienmärkte nicht liefern.»
Einige Bereiche des Fixed-Income-Segments haben in den vergangenen Wochen bereits grosse Wertsteigerungen erfahren. Zuerst profitierten vor allem Papiere mit langen Laufzeiten und Spitzenratings, es folgten die mittelfristigen «AA»-Titel. «Innerhalb der kommenden sechs Monate erwarte ich, dass auch die ‹A›- und die kurzfristigen ‹BBB›-Anleihen profitieren werden», sagt Ermira Marika, Head of Developed Market Credit bei Pictet Asset Management. Je langfristiger ein Anleger in Obligationen investiert bleiben möchte, desto eher könne man es sich leisten, zu früh einzusteigen. «Es ist sehr schwer, den Zeitpunkt zu optimieren, und der Markt neigt oft dazu, die potenzielle Nachfrage einzupreisen», fügt Marika hinzu.
«Die jüngste Zinsentwicklung ist ein Anflug von Normalisierung», sagt Asset-Managerin Hochberg. Für die Märkte sei es ein wichtiges Signal, dass das Negativ-Territorium verlassen wurde. Doch kaum ein Marktbeobachter erwartet, dass die Zinsen wieder auf Niveaus im zweistelligen Bereich steigen werden, wie man sie in der Vergangenheit als normal angesehen hat. Ganz im Gegenteil: Viele Ökonomen rechnen bereits für das kommende Jahr mit ersten Leitzinssenkungen. «Ich habe wenig Hoffnung, dass die Zinsen sehr viel weiter steigen. Vielmehr haben wir das Ende des Zinserhöhungszyklus bereits vor uns», beklagt Bond-Experte Kuhnke. Die Notenbanken, allen voran die Fed, würden die Zinsen noch um maximal 100 Basispunkte anheben. Das müsse aber schnell geschehen, weil 2023 eine Rezession vor der Tür stehe. Diese werde zuerst die USA treffen, dann die Eurozone. «Dann wird es spannend, ob die Lippenbekenntnisse bezüglich der Inflationsbekämpfung umgesetzt werden, wenn gleichzeitig die Konjunktur einbricht», fragt sich Kuhnke, der – ebenso wie die Mehrheit der Marktteilnehmer – eher mit einer Rückkehr zu einer expansiven Geldpolitik rechnet. Sollten die Notenbanken die Leitzinsen nicht weiter anheben und vielleicht sogar wieder senken, würden Anleihen in diesem Umfeld gewinnen, während Aktien verlören.
Die hohe Volatilität ist ein gesundes Signal dafür, dass der Markt wieder funktioniert
Anja Hochberg, ZKB Asset Management
Mehr als ein Puffer
Lange Zeit haben Anleihen im Portfolio vor allem die Rolle des Volatilitätsdämpfers übernommen. Denn im Normalfall gilt: Wenn die Aktienkurse fallen, steigen die Preise für Anleihen. Die langfristige Korrelation zwischen den beiden Anlageklassen ist negativ. «In der ersten Jahreshälfte haben wir einen gleichzeitigen Rückgang von Aktien und Anleihen erlebt», sagt Roxane Spitznagel. Dies habe zur Behauptung geführt, Anleihen taugten nicht mehr zur Diversifikation. «Eine schwächere Konjunktur dürfte die Rolle von Anleihen als Portfoliodiversifizierer wieder bestätigen. Anleihen haben als wichtiger Bestandteil im Portfolio noch lange nicht ausgedient», meint die Ökonomin.
Die Voraussetzungen für den über Jahrzehnte vorherrschenden Zusammenhang zwischen den beiden grössten Anlageklassen sind wiederhergestellt. Durch die Manipulationen der Notenbanken, die in den vergangenen Jahren massiv Anleihen gekauft und die Zinsen ins Negative gesenkt hatten, sind beide Assetklassen parallel gestiegen – eine atypische Entwicklung. Mit dem Drosseln und schliesslich dem Ende der Bondkäufe sowie dem Anheben der Leitzinsen ist wieder Normalität eingekehrt. «Zu Beginn haben beide Anlageklassen verloren. Das war die Bereinigung, und nun sollten wieder die normalen Mechanismen wirken», sagt Kuhnke.
Doch Anleihen können heute wieder mehr. Sie sind nicht nur die Stossdämpfer für Verluste an den Aktienmärkten. «Anleihen werden auch die andere Rolle übernehmen und die Quelle von Renditen und Erträgen sein – das haben wir uns schon lange erhofft, und es wird Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres der Fall sein», davon ist Fixed-Income-Expertin Marika überzeugt.
Anleihen werden wieder die Quelle für Renditen und Erträge sein.
Ermira Marika, Pictet
Auf der Suche nach höheren Renditen werden Investoren in den sogenannten Schwellenländern fündig. Auch in diesen Regionen haben festverzinsliche Papiere zuletzt eine sehr gute Wertentwicklung gezeigt. «Im Gegensatz zu den USA und Europa haben die Emerging Markets die Phase der starken Inflation bereits hinter sich», argumentiert Anja Hochberg. Chinas Zentralbank senkte Mitte August überraschend die Zinsen um zehn Basispunkte – Auslöser für ein Rally bei chinesischen Staatsanleihen. Die Entwicklung zeigt, dass diese Titel nicht mit US- oder europäischen Staatsanleihen korrelieren. Anleger aus dem Ausland scheinen diese Eigenschaft zu schätzen und kehren an Chinas Bondmarkt zurück. Generell sind die Zinsaufschläge für Schwellenländer-Anleihen derzeit attraktiv. Hinzu kommt, dass sich die Kreditqualität, gemessen an den Ratings dieser Länder, in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat. Anleger sollten aber im Hinterkopf haben, dass auch die Emerging Markets in Mitleidenschaft gezogen werden, sollten die USA und Europa in eine Rezession abrutschen. Mit Blick auf die geopolitischen Gefahren und die Abhängigkeit von russischem Erdgas ist zudem bei Engagements in Osteuropa Vorsicht geboten. Interessant sind hingegen Länder, die derzeit von steigenden Rohstoffpreisen profitieren.
Nur Beste Qualität
Eher zurückhaltend sind die Anlageexperten mit Empfehlungen für Firmenanleihen. Bei deren Bewertung schauen Investoren auf die Risikoaufschläge, die Emittenten im Vergleich zu als sicher geltenden Staatsanleihen bieten, die sogenannten Credit Spreads. In der aktuellen konjunkturellen Lage ist es entscheidend, ob diese Aufschläge das Risiko einer Rezession kompensieren. In schwachen Konjunkturphasen weiten sich diese Spreads naturgemäss aus, da Anleger in sichere Häfen fliehen, und Firmenanleihen verbuchen so Kursverluste. Inwieweit kompensieren die aktuellen Credit Spreads die Folgen einer möglichen Rezession? «In den USA spiegeln die Aufschläge eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit einer Rezession. In Europa sind es 60 Prozent», sagt Lisa Coleman, Global Head of Credit bei J.P. Morgan Asset Management. «Gemessen an den Spreads, preist der Markt nicht ausreichend die Wahrscheinlichkeit einer Rezession ein», urteilt sie. Coleman würde die Spreads daher gerne etwas weiter sehen, bevor sie für diese Bondkategorie Engagements ausschliesslich basierend auf den Risikoaufschlägen empfehlen möchte.
Generell sollten Anleger, aufgrund der drohenden Rezession, in Bonds höherer Qualität investieren. Anleihen des sogenannten Investment-Grade-Bereichs, der Ratings bis zu einer Note von «BBB–» umfasst, sind Obligationen mit schwächerer Bonität, High Yields oder auch Junk Bonds genannt, vorzuziehen. Ratingagenturen gehen von einem Anstieg der Ausfallraten in diesem Segment von 2,1 auf 2,7 Prozent für 2023 aus.
Obwohl einige Stimmen schon davon sprechen, dass die Inflation ihren Höhepunkt bereits erreicht hat, sollten sich Anleger vor allem für den Euroraum auf eine weiter steigende Teuerung einstellen. Im dritten oder spätestens im vierten Quartal wird die Inflation auf über zehn Prozent steigen, davon ist die Mehrzahl der Auguren überzeugt. In Grossbritannien steigen die Preise bereits mit zweistelligen Raten. Auch für die USA ist die Situation mit grosser Unsicherheit behaftet. «Bei sinkenden Benzinpreisen könnte die Gesamtinflation ihren Höhepunkt erreicht haben, aber das Aufwärtsrisiko für die Kerninflation bleibt vor allem durch steigende Löhne bestehen», befürchtet Roxane Spitznagel.
Die Aufschläge für Firmenanleihen sollten angesichts einer drohenden Rezession höher sein.
Lisa Coleman, J.P. Morgan AM
In einem solchen Umfeld bieten inflationsindexierte Anleihen einen gewissen Schutz. Für sehr lange Zeit waren derartige Bonds völlig unnötig, wer aber in den vergangenen zwölf Monaten inflationsgeschützte Obligationen im Portfolio hatte, konnte sich glücklich schätzen: Ein Korb aus nominalen deutschen Staatsanleihen brachte in dieser Zeitspanne einen Verlust von fast 11 Prozent. Bundesanleihen mit Inflationsschutz generierten auf Zwölf-Monats-Sicht einen positiven Ertrag von 1,2 Prozent. Anleihen vom selben Emittenten, mit demselben Zinsänderungsrisiko – aber einer Performance-Differenz von 12 Prozentpunkten. Zwar sind die Preise in diesem Bondsegment schon gestiegen, doch im Bereich kurzer Laufzeiten sieht Stephan Kuhnke für die kommenden Monate noch Chancen.
Das neue Portfolio
Anlageexperten raten Privatanlegern davon ab, ein Bondportfolio aus Einzeltiteln zusammenzustellen. Für eine sinnvolle Diversifikation sind wenigstens 100 Titel nötig, was sich aufgrund der Stückelungen – 1000 Franken pro Titel sind das Minimum – schwer umsetzen lässt. Am Anleihenmarkt steht Anlegern ein Instrumentarium mit aktiv gemanagten Fonds oder passiven Vehikeln wie Indexfonds oder Exchange Traded Funds (ETFs) sowie strukturierten Produkten zur Verfügung.
Portfolios sehen heute anders aus als früher. Ein klassisches 60-40-Depot mit Aktien und Obligationen hätte Anleger während der jüngsten Turbulenzen wegen der gleichläufigen Entwicklung hohe Verluste beschert. Ein modernes Portfolio hat zusätzliche Diversifikationsfaktoren wie Rohstoffe. Diese hätten einen Teil der Verluste abgefedert. Auch innerhalb der Anleihenquote ist die Diversifikation heute typischerweise höher als im klassischen Portefeuille. Neben Staatsanleihen gehören Unternehmensanleihen, Schwellenländer-Bonds, inflationsgeschützte Titel sowie Wandelanleihen und andere hybride Papiere dazu. All diese Obligationenkategorien reagieren unterschiedlich auf verschiedene Marktsituationen. Essenziell ist zudem die Währungsabsicherung: Der Franken-Kapitalmarkt ist klein. Anleger kommen nicht darum herum, auch im Ausland zu investieren. Der Risikobeitrag aus den Währungen ist durchschnittlich höher als die Renditen, die man mit globalen Anleihen erzielen kann. Es lohnt sich also nicht, das Währungsrisiko einzugehen.
Schon einen Monat nach dem historischen Zinsschritt im Juni hat die US-Notenbank die Zinsen erneut um 75 Basispunkte angehoben. Die nächste Leitzinsentscheidung von Powell und seinem Team steht Anfang September an. Leitzinsen bis 3,75 Prozent sind in den Anleihenrenditen eingepreist. Wenn dieser Zyklus also schneller zu Ende sein sollte, wäre dies ein Nährboden für weitere Renditerückgänge und somit Kursgewinne für Bonds.