Der Russland-Krieg hat eine globale Energiekrise und -debatte entfacht. Chefredaktor Dirk Schütz zog mit berufenen Gästen gut ein Jahr nach Kriegsbeginn Bilanz.

Militärökonom Markus Matthias Keupp hielt an seiner provokativen Aussage fest, dass die Ukraine im Oktober den Sieg erhält. Dies aus zwei einfachen Gründen: Sowohl die russischen Reserven als auch die russische Einsatzfähigkeit sind stark überschätzt worden. Dass Putin also sich noch lange gegen moderne westliche Technologien durchsetzen kann, ist unwahrscheinlich: «Russland führt diesen Krieg mit enormen Abnutzungsraten, die sie ganz bewusst und gegen jede militärische Logik in Kauf nehmen. Wenn man das herunterrechnet, dann können sie feststellen, wann diese Reserven weg sind.» Die Quellen für seine Rechnung will der Militärökonom nicht nennen. Und dass Russland irgendwelche Reserven aus China herzaubern könnte, sei russische Propaganda par excellence. 

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Für Firmen, die ihr Geschäft in Russland nicht gekappt haben, sieht Keupp viele Risiken. Auch dort macht der Ökonom eine einfache Rechnung: «Wenn Sie in Russland bleiben, bezahlen sie dem Staat gegenüber Steuern, diese Steuern fliessen in das russische Budget und aus diesem Budget wird der Krieg finanziert». Bei einer gerichtlichen Aufarbeitung des Ukraine-Kriegs werden auch die Kooperationen angeschnitten werden. «Das Letzte, was sie dann als europäische Firma brauchen ist ein Label: ‹Ich habe mit dem russischen System kollaboriert›». 

Trotz zuversichtlicher Aussichten, was den Kriegsverlauf betrifft, bleibt die Tatsache, dass die Abkopplung vom russischen Gas die europäische Energieversorgung völlig umgewälzt hat. Dass wir diesen Winter doch nicht zu den Kerzen greifen mussten, hat gemäss Keupp mit dem starken Preissignal zu tun. Die hohen Preise führten zu massiven Einsparungen: «Energieeffizienz ist die neue Killer-App», so Keupp. 

Axpo-CEO Christoph Brand zeichnet jedoch ein neues Schreckensszenario (siehe Video oben) für den nächsten Winter. Verschiedene Faktoren, wie etwa wenig Schmelzwasser, ein trockener Sommer und die Tatsache, dass die chinesische Post-Covid-Wirtschaft wieder auffährt und enorm viel Gas auf dem Markt kauft, können dazu führen, dass «wir mit halbleeren Gasspeichern in den nächsten Winter gehen», so Brand. 

Keupp wiederum sieht die Entkopplung von billigem, russischem Gas als wichtigen Moment der «Globalisierung des Gasmarktes». Während man jahrzehntelang nach dem Motto «wer hat die billigste Energie» operiert hat, kommt dies heute nicht mehr infrage. «Es geht nicht mehr um den Preis, sondern darum, dass die Energie überhaupt da ist.» Umso mehr wäre jetzt für Keupp, auch aus einer nichtideologisch tangierten Perspektive, der Zeitpunkt, um auf erneuerbare Energien zu setzen.  

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Climate risk is investment risk: Für Keupp muss man nicht mal «grün» sein, um zu erkennen, dass das Zeitalter der Fossilen so schnell wie möglich enden sollte. 
Quelle: Brightcove

Revival of the fossil

Dies ist jedoch ganz entgegen dem Trend, der sich seit dem Kriegsbeginn abgezeichnet hat. Die ganze Debatte um den Wiederaufbau der Kohlekraftwerke zeigt, wie sehr der Krieg den Plänen für die Energiewende einen Dämpfer verpasst hat. 

«Vielleicht sind wir aber auch ehrlich geworden», kann Sulzer-VRP und Vorfrau Suzanne Thoma dazu nur sagen. «Wir akzeptieren jetzt, dass ein solch dramatischer Umbau nicht innerhalb von wenigen Jahren passieren kann.» Unter Thoma soll Sulzer sich komplett auf die Energiewende ausrichten, der Konzern ist, etwa was CO2-Capture-Technologie betrifft, ganz vorn mit dabei, doch für Thoma sei jetzt vor allem eins nötig: intellektuelle Redlichkeit.

Und zwar um die Vor- und Nachteile – auch von erneuerbaren Energien – zu besprechen, ohne in die «Ecke der Bösen» gestellt zu werden. Wenn die Rede davon ist, dass die Hälfte des Stroms in Zukunft mit Photovoltaik erzeugt werden soll, dann ist das auch nicht ganz ohne (siehe Video unten). 

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Für Sulzer-CEO Suzanne Thoma muss man die Dinge zu Ende denken – so auch die Energieversorgung durch Photovoltaik.
Quelle: Brightcove

Rettung AKW? 

In der ganzen Diskussion um russenfreie – und dennoch klimaneutrale – Energie ist zudem vermehrt wieder die Kernkraftenergie ins Zentrum der Diskussion gerückt. Axpo-Chef Brand sagt ganz klar, dass für den Winter Energiequellen hermüssen, die vom Wetter unabhängig sind. In der Schweiz ist «der Neubau eines Kernkraftwerks der heutigen Generation betriebswirtschaftlich nicht denkbar». Dank Wasserkraft und der bestehenden Kernkraft könne die Schweiz CO2-freien Strom produzieren: «Das gibt uns die Zeit, dass man, bis in 40 Jahren der Markt für synthetisches Gas genug liquid ist, die Schweiz mit Synthesegas versorgen kann.» 

GLP-Fraktionschefin Tiana Angelina Moser findet die Diskussion um Atomkraft «eine politische Strategie». Ein von bestimmten Kreisen orchestriertes Ablenkungsmanöver, um sich mit dem EU-Hammer, der 2025 zuschlagen wird, nicht auseinandersetzen zu müssen. 
Das Clean Energy Package der EU besagt, dass die Mitgliedstaaten mindestens 70 Prozent der Kapazität ihrer Netzelemente für den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen müssen. Einfach ausgedrückt: mehr Strom für die Mitgliedstaaten, weniger für die Schweiz. Diese 70-Prozent-Regel kommt – «wenn wir bis dahin kein Stromabkommen haben, ist das verheerend», so Moser. 

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Den ganzen Business Talk sehen Sie hier.
Quelle: Brightcove
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Sehen Sie im Video oben, was die Gäste am Bilanz Business Talk im Anschluss an die Sendung noch zur brennenden Energiefrage gesagt haben.
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