Ich selber gehöre in diese Alterskategorie: 1959 in Zürich geboren und als Unbeschwerter aufgewachsen, schwelge ich in tollen Erinnerungen. Frisierte Mofas und keine Helmpflicht, Discokugeln statt Silikonimplantaten, Idole und keine Influencer, versteckte Sexheftli anstelle von öffentlichem Youporn, Dorfplatz statt Chatrooms – schön wars. Doch ist es heute wirklich schlechter?
Es fällt auf, dass immer mehr meiner Bekannten aus vergangenen Tagen dem Jammer-Blues verfallen. Sie driften in den Vergleichsmodus ab und konzentrieren sich auf das, was war und nicht mehr ist. Sie bekunden Mühe mit Veränderung, und neben dem Körper wird auch der Geist zusehends unbeweglich. Früher haben sie sich wie verrückt und voller Energie auf das Wochenende und den Ausgang gefreut.
Wenn bei ihnen heute noch etwas ausgeht, dann höchstens das Licht am Ende des Tunnels. Und so setzt sich der Blues langsam in den alternden Zellen fest, und die ehemals vitalen Freunde verwelken in ihrer selbst gewählten No-Future-Dunkelheit. Da helfen selbst flotte Motivationssprüche nicht weiter: «Hey – 60 ist das neue 40!»
Dani Nieth ist Managementtrainer, Autor und wird mit 62 nochmals Unternehmer: mit einer Firma für LED-Sportplatzbeleuchtung und E-Ladesäulen.
Diese Sprüche meinen es vielleicht gut, bewirken aber das Gegenteil. Sie demotivieren, weil wir aus Erfahrung wissen: 60 ist NICHT das neue 40! Spätestens beim Aufstehen frühmorgens fällt einem das unmissverständlich auf. «Du siehst super aus …» Was sie meinen und nicht sagen, ist «… für dein Alter».
Die meisten Menschen haben eine «Ponyhof-Vergangenheits»-Verzerrung. Das bedeutet, dass wir im Nachhinein gern meinen, unsere Erlebnisse seien interessanter gewesen, als sie es tatsächlich waren. Wir erlebten vieles zum ersten Mal, was später normal wurde: den ersten Kuss, den ersten Job, die ersten Ferien ohne Eltern. Diese prägenden Ereignisse sind tiefer im Gehirn verankert. Das bedeutet auch, dass die Affinität für Nostalgie und damit falsche Erinnerungen an die Vergangenheit mit dem Alter zunimmt.
Wenn wir das Schlechte vergessen, das Gute hingegen in bester Erinnerung behalten, folgt daraus nahezu logisch die Sehnsucht nach der vermeintlich grossartigen Vergangenheit. Wer zu wissen meint, wie fantastisch die früheren Zeiten waren, lästert über die Gegenwart: Klima, Putin, Covid, Ausländer, Flugverkehr, LGBTQ und so weiter.
Und wenn junge Menschen auf Statistiken verweisen, die klar zeigen, dass es der Menschheit heute besser geht als je zuvor, kriegen sie von den Nostalgikern meistens ein vergrämtes «Bisch debii gsii?!» zu hören. Dass sich das Jammern nicht lohnt und zudem hohen volkswirtschaftlichen Schaden verursacht, habe ich in meinem Buch «Jammern gefährdet Ihre Gesundheit» vor sechs Jahren ausführlich beschrieben.
Früher war alles besser? Nein, heute ist die Welt wohlhabender und gesünder als früher. Viele positive Entwicklungen bleiben unter dem Radar, weil nur die plötzlichen, dramatischen Ereignisse für Gesprächsstoff sorgen. Dies mit Zahlen zu beweisen, war das Anliegen des Schweden Hans Rosling, Professor für Internationale Gesundheit. In seinem Buch «Factfulness» zeigt er, dass wir in der besten Zeit der Menschheitsgeschichte leben: In den Entwicklungsländern haben heute über 60 Prozent der Mädchen einen Grundschulabschluss, weltweit hat die Anzahl an geimpften Kindern fast die 90-Prozent-Marke erreicht, und viele weitere Beispiele zählt er auf.
Ja, Klima und Umwelt leiden, aber die Population des Tigers nimmt seit 1996 kontinuierlich zu. Ja, die Versorgung mit Energie ist in der verwöhnten Schweiz vorübergehend etwas unsicherer geworden, aber weltweit haben vier von fünf Menschen Zugriff auf elektrischen Strom. Aber jaja: Die Jungen haben keinen Anstand mehr, es gibt zu viele Rentner mit E-Bikes, und auch die SBB haben immer mehr Verspätung …
Früher war alles besser? Nein, heute ist die Welt wohlhabender und gesünder als früher.