Ein Sinfonieorchester zu dirigieren, ist, wie einen Porsche mit Vollgas um die Kurve zu lenken: eine perfekt geölte Maschine mit Turbobeschleunigung. 200 Menschen spielen zwei Stunden lang nach deinem Takt, dann der Applaus, 1000 oder 2000 begeisterte Menschen jubeln dir zu – Standing Ovations. Anschliessend schnell den Schweiss aus dem Gesicht wischen, ein erster Drink im Künstlerzimmer, davor warten die Fans. Schulterklopfen. Später lädt der Intendant zum Dinner, doch dann, im Hotel, wird es plötzlich still. Dein Körper produziert weiter Adrenalin, aber um dich herum schweigt die Nacht. Deine Gedanken kreisen, dein Ego ist auf 180. An Schlaf ist nicht zu denken. Du zückst dein Handy, schreibst Textnachrichten in die Dunkelheit: «Danke, schön wars,  du bist toll!» Eine Musikerin antwortet, und du fütterst deine Einsamkeit mit einem Flirt.

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Ob das bei François-Xavier Roth genau so war, wissen wir nicht. Was wir wissen: Das Pariser Satiremagazin «Le Canard enchaîné» berichtete, dass der französische Dirigent Musikerinnen und Musikern Textnachrichten mit Küssen und Herzen geschickt haben soll, dass er zu einer «virtuellen Dusche» eingeladen und offensichtlich auch Bilder seines Geschlechtsteils gesendet haben soll. Nach diesen Enthüllungen erklärte Roth: «Wenn ich zu weit gegangen bin, möchte ich mich bei denjenigen entschuldigen, die ich verletzt haben könnte.» Dann legte er die Dirigate bei seinen Orchestern nieder und will die Vorwürfe nun gemeinsam mit den Ensembles «umfassend untersuchen».

Die Klassik, so wirkt es bisweilen, ist das letzte Eldorado für toxische Männlichkeit, eine hierarchische Welt für Despoten. Weil die Welt der Klassik im ewigen Gestern lebt, weil die Machtgefälle nirgends so gross und die Kontrollmechanismen nirgends so schwach sind wie hier?

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Warum ist in der Oper oder im Orchester möglich, wofür jeder CEO einer grossen Bank sofort seinen Hut nehmen müsste? Warum kann die Kunst, die uns alle berühren soll, sich selber nicht beherrschen?

Eskapaden wie in Pop und Rock

Nach dem Sommer sollte François-Xavier Roth eigentlich Chefdirigent beim deutschen Südwestrundfunk werden – ausgerechnet als Nachfolger des wegen seiner Russland-Verbindungen in der Kritik stehenden Teodor Currentzis. Der Sender erklärt nun, man habe auch in Stuttgart Hinweise auf Fehlverhalten erhalten, wolle die Sache auch hier sorgfältig prüfen und bis dahin nicht weiter kommentieren. Nun herrscht erst einmal Funkstille.

In Pop und Rock gehörten sexuelle Eskapaden und Grenzüberschreitungen zum guten Ton. Aber «Sex and Drugs» gibt es eben auch in der Klassikszene. Roth ist nicht der einzige Klassikkünstler, dem die Libido zum Verhängnis geworden ist. In den letzten Jahren haben Fälle mit ganz unterschiedlichen Qualitäten der Klassik den Frack ausgezogen.

Der Schweizer Stardirigent Charles Dutoit soll Sängerinnen kurz vor der Aufführung an eine Wand gedrückt, ungewünscht begrapscht und geküsst haben – um die Lebendigkeit der Vorführung zu steigern. Dutoit wies die Anschuldigungen zurück, dennoch verzichten viele grosse Orchester inzwischen darauf, ihn zu engagieren. Der britische Maestro John Eliot Gardiner ist für sein heisses Blut bekannt und pausiert gerade mit Auftritten, nachdem er einem Musiker hinter der Bühne eine heftige Ohrfeige verpasst hatte.

Charles Dutoit war viele Jahre der wichtigste Schweizer Dirigent.

Charles Dutoit war viele Jahre der wichtigste Schweizer Dirigent.

Quelle: EPA

Vor zwei Jahren erzählte Katharina Wagner, die Leiterin der Bayreuther Festspiele, dass ein Mitwirkender ihr an den Busen gegrapscht habe, Vorwürfe von Herabwürdigungen kamen auch aus dem Festspielchor – eine Person wurde suspendiert.

In der Dokumentation «Sei still!» des SRF hat die Schweizer Sopranistin Marysol Schalit offen darüber gesprochen, wie schnell Grenzen im Umfeld der Bühne überschritten werden – und zwar nicht heimlich, sondern im grellen Scheinwerferlicht, vor Tausenden von gaffenden Augen. «Der Verhaltenskodex in den Theatern ist mehrheitlich Alibi», sagt Schalit und erzählt, wie ein Sänger ihr auf offener Bühne die Zuge in den Mund gesteckt oder ihre Hand auf sein Glied gelegt habe. «Gerade als junge Künstlerin weiss man nicht, wie man mit derartigen Überfällen umgehen soll.»

Die Sängerin Marysol Schalit sprach in einer TV-Sendung über Belästigungen auf offener Bühne.

Die Sängerin Marysol Schalit sprach in einer TV-Sendung über Belästigungen auf offener Bühne.

Quelle: Danielle Liniger

Riesige Grauzone

Es geht noch eindeutiger: Im Mai wurde der britische Dirigent Jan Latham Koenig von einem englischen Gericht zu 14 Monaten Haft verurteilt. Er hatte Minderjährige in einer Schwulen-App zu Sex überreden wollen. Koenig musste die Strafe allerdings nicht antreten, da der Richter der Auffassung war, Koenig habe öffentlich genug gelitten und seine Karriere erheblichen Schaden genommen.

Dem ehemaligen Präsidenten der Hochschule für Musik und Theater München hingegen blieb der Gang ins Gefängnis nicht erspart: Das Gericht hatte festgestellt, dass Siegfried Mauser eine Frau in drei Fällen sexuell genötigt hatte. Im Laufe der Verhandlungen offenbarte sich dann ein ganzes System von Abhängigkeiten an der Hochschule: Harte Drogen und ausschweifende Orgien waren keine Seltenheit. Mittendrin der Kompositionslehrer Hans-Jürgen von Bose.

Pikant war, dass Mauser auch nach der Verurteilung noch von prominenten Klassikprotagonisten verteidigt wurde. So ortete Richard Wagners Urenkelin Nike Wagner eine Intrige gegen ihren Freund und erklärte: «Frauen, die einen Job wollen, sind auch nicht immer nur Engel.» Inzwischen hat Mauser seine Haft abgesessen und München eine neue Hochschulpräsidentin. Lydia Grün führte als eine ihrer ersten Amtshandlungen eine Umfrage durch, deren Ergebnisse schockieren: Beinahe 90  Prozent der befragten Studierenden in München gaben an, Machtmissbrauch selbst erlebt, gesehen oder mitbekommen zu haben. Dazu gehören verbale wie auch körperliche Übergriffe.

Tatsächlich ist die Grauzone gross, und nicht alle Fälle landen vor Gericht. Auch dem italienischen Dirigenten Daniele Gatti wurden sexuelle Übergriffe vorgeworfen, zunächst von der «Washington Post». Gatti entschuldigte sich für sein «mögliches Fehlverhalten». Als dann aber auch das Concertgebouworkest in Amsterdam, dessen Chefdirigent er war, Vorwürfe erhob, wies Gatti diese entschieden zurück. Trotzdem trennte sich das Orchester, eines der besten Europas, von ihm. Erst in anschliessenden Schlichtungsgesprächen verfasste man eine Pressemeldung, in der das Concertgebouworkest bekannt gab, dass man sich «einvernehmlich» und nach «konstruktiver Diskussion» trenne. Den Vorwürfen wurde nicht weiter nachgegangen. Inzwischen ist Gatti Chefdirigent der Staatskapelle in Dresden. Von 2009 bis 2012 war er in gleicher Funktion am Opernhaus Zürich.

Daniele Gatti war vor gut einem Jahrzehnt am Opernhaus in Zürich.

Daniele Gatti war vor gut einem Jahrzehnt Chefdirigent am Opernhaus in Zürich.

Quelle: ANP via AFP

Die Klassikszene ringt ähnlich wie der Rock mit der Frage, was eigentlich erlaubt ist und was nicht und wie man mit den unterschiedlichen Kategorien von Moral und Justiz umgehen soll. Im Rockgeschäft wurde all das kürzlich an der deutschen Band Rammstein durchexerziert: Von «Verdachtsberichterstattung» ist da die Rede. Oder davon, dass die Row Zero, also das gezielte «Zuführen von Frauen», vielleicht moralisch fragwürdig sei, juristisch aber unangreifbar.

Der eigentliche Unterschied: Während Rock, Punk oder Hip-Hop mit Grenzüberschreitungen (auch im realen Leben) spielen, behauptet die Klassik weiterhin die moralische Überlegenheit von Bach, Beethoven oder Brahms. Musikerinnen und Musiker erklären gern, für das Gute, das Hehre und das Gerechte zu spielen – für den weltweiten Humanismus. Umso höher ist die Fallhöhe, wenn plötzlich Dickpics auftauchen. Das ist, als würde der Papst im Tram beim Knutschen erwischt.

Eine bessere Welt?

Schliesslich stellt sich die Frage der Rehabilitation. Haben Kulturinstitutionen überhaupt die nötige Expertise, um moralisch zu richten? Im Fall des Ballettdirektors in Hannover, Marco Goecke, war das nicht so klar. Goecke hatte eine kritische Journalistin im Theaterfoyer abgepasst und sie mit Hundekot beschmiert. Das sorgte für einen medialen Skandal, Goecke entschuldigte sich mehr oder weniger glaubhaft. Das juristische Verfahren gegen ihn wurde gegen eine vierstellige Geldauflage eingestellt. Goecke musste an einen gemeinnützigen Verein zahlen, der sich mit Konfliktschlichtung beschäftigt.

Und auf dem Stuhl Marco Goecke, der ab Sommer 2025 am Theater Basel als Ballett­direktor wirken wird

Marco Goecke wird ab Sommer 2025 am Theater Basel als Ballettdirektor wirken.

Quelle: PD

Der Kulturbetrieb zog ebenfalls Konsequenzen: Die Staatsoper in Hannover trennte sich von ihrem Ballettchef, Mannheim stoppte eine von Goeckes Choreografien, Jena machte ein Theaterstück aus dem Vorfall. Ein gutes Jahr später, vor gut einem Monat, wurde nun bekannt, dass Goecke im Sommer 2025 wieder Ballettchef wird – am Theater Basel. «Er hat eine zweite Chance verdient», sagt der Intendant Benedikt von Peter.

Tatsächlich scheinen Kulturbetriebe Fehlverhalten zu wenig zu ahnden. Es gibt kaum Kontrollinstanzen, und der künstlerische Prozess begünstigt Grenzüberschreitungen. Oft sind zudem die Wege für Beschwerden unklar geregelt, und es gibt nur wenige Anlaufstellen für Opfer.

Dabei ist Fehlverhalten natürlich kein Privileg von Männern. Am Maxim Gorki Theater in Berlin beschwerte sich das Ensemble über die Übergriffe von Intendantin Shermin Langhoff, und der Film «Tár» von Todd Field zeigt Cate Blanchett in der Rolle einer Dirigentin, die für ihre Karriere über Leichen geht. Sie erniedrigt Menschen, verrät ihre Liebe und kennt keine Skrupel.

Doch die Frauen, die heute in wachsender Zahl die Pulte stürmen, scheinen einen anderen Umgangston zu pflegen. Marie Jacquot, designierte Chefdirigentin des WDR-Sinfonieorchesters, beteuert, dass Musikmachen ein Gemeinschaftsprozess sei – und die Orchester geniessen das dialogische Arbeiten mit ihr. Gerade hat die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv, selbst hoch beliebt und erfolgreich, ein Interview, das Marie Jacquot gab, in ihren sozialen Medien geteilt – eine neue Solidarität, die unter Alphamännern wie Herbert von Karajan oder Leonard Bernstein unvorstellbar gewesen wäre. Und die litauische Dirigentin Mirga Gražinyte-Tyla macht keinen Hehl daraus, dass ihr eine intakte Familie mindestens so wichtig sei wie eine gute Karriere. Einzig Joana Mallwitz, die neue Chefdirigentin des Berliner Konzerthausorchesters, inszeniert sich auch heute noch gern als bildgewaltige Maestra im monumentalen Karajan-Stil der 1980er Jahre.

Trotzdem scheint das Engagement von Frauen für viele Orchester bereits an sich ein Zeichen für eine bessere Klassikwelt zu sein. Einige männliche Dirigenten um die 50 kämpfen derweil um ihre Position. Sie argumentieren, dass es unfair sei, wenn nicht mal zehn Prozent der Hochschulabsolventen im Fach Dirigieren Frauen seien und man dennoch eine 50-Prozent-Quote auf den Podien fordere. Viele Dirigenten der «Boomer»-Generation fühlen sich schlichtweg vergessen.

Tatsächlich ist es weniger der Vormarsch der Frauen in der Klassik, der die Musikszene besser macht – sondern eher der öffentliche Umgang mit Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen, der sich massiv verändert.

So war es in den 1990er Jahren ein offenes Geheimnis, dass der US-Pultstar James Levine eine Vorliebe für Minderjährige pflegte. Orchestermitglieder berichten heute, dass sie damals gewarnt worden seien, ihre Kinder zu den Proben zu bringen, wenn Levine anwesend war, und eine Starsopranistin schmunzelte in Interviews öffentlich über Levines «Schwäche». Der Dirigent selber erklärte damals: Es könne doch nichts dran sein an den Gerüchten – immerhin stehe er unter dauernder Beobachtung.

Das Licht wird immer heller

Aber wie beim ungewollten Zungenkuss auf offener Bühne hat auch der Fall James Levine gezeigt, dass Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe in der Klassik eben nicht unbedingt hinter verschlossenen Türen stattfanden. Sie passierten häufig vor den Augen der Öffentlichkeit und wurden nicht verurteilt, sondern höchstens belächelt. Das mag ein Grund dafür sein, dass François-Xavier Roth sich womöglich wenig bis gar nichts dabei dachte, als er seine Textnachrichten in die Welt schickte.

Inzwischen werfen die genannten Fälle immer mehr öffentliches Licht in die Schattenwelt der Musik. Für alle, die gern grenzüberschreitend im Dunkeln munkeln, wird es unangenehmer. Und wenn das Testosteron nach dem Auftritt im Körper weiterpulsiert, wenn die Stille nach dem Konzert im Hotelzimmer unerträglich wird und das eigene Ego den Herrn Dirigenten erregt, wäre es heute längst klüger, innezuhalten und nachzudenken, welche Konsequenzen der nächste Klick haben könnte.

Paavo Järvi vom Zürcher Tonhalle-Orchester gilt als Vertreter des neuen, kooperativen Stils.

Paavo Järvi vom Zürcher Tonhalle-Orchester gilt als Vertreter des neuen, kooperativen Stils.

Quelle: Keystone