Deutschland wird immer wieder als «Streber Europas» bezeichnet, insbesondere im wirtschaftlichen und politischen Kontext. Damit ist gemeint, dass Deutschland grossen Wert auf Disziplin, Ordnung, Effizienz und Erfolg legt. In der Tat ist die politische und wirtschaftliche Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beeindruckend.

Deutschland charakterisiert sich aber auch dadurch, dass das Land moralische Exzellenz anstrebt. Dabei gilt: Die Grundwerte und moralischen Vorstellungen einer Bevölkerung sind entscheidend für den Erfolg und die Stabilität eines Landes. Dies zeigt sich beispielsweise im Umgang mit staatlichen Schulden. Eine verfassungsmässige Schuldenbremse ist eine wichtige Grundlage für eine langfristige politische und wirtschaftliche Stabilität. Sie erfüllt ihren Zweck allerdings nur so lange, wie die Bevölkerung Selbstdisziplin zeigt und hinter dieser Regel steht, denn nur dann haben die Politiker Anreize, sie tatsächlich einzuhalten.

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Adriel Jost ist Ex-SNB-Mitarbeiter, Fellow am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern und Präsident des Thinktanks Liberethica.

Werte sind somit wichtig, doch wenn es das Ziel ist, moralischer Musterknabe zu sein, kann dies schnell in einem Moralismus enden. So auch in unserem nördlichen Nachbarland. Deutschland will es besonders gut machen: EU-Politik, Aussenpolitik, Klimapolitik, Sozialpolitik, Migrationspolitik – überall will das Land «Haltung zeigen» und vergisst dabei, was seinen Erfolg ausmacht. «Gut gemeint» ist leider zu häufig das Gegenteil von «gut gemacht».

Beispiele dazu gibt es viele: Ein besonders grosszügiger Sozialstaat verbunden mit hoher Immigration hat dazu geführt, dass die Budgets für dringend notwendige Investitionen in die Infrastruktur nicht gesprochen werden und so ausgerechnet die Deutsche Bahn zu den unpünktlichsten Eisenbahngesellschaften Europas gehört. Deutschland hat aus Solidarität mit schwächeren EU-Mitgliedstaaten Dammbrüche wie den Kauf von Staatsschulden durch die Europäische Zentralbank (EZB) unterstützt, wodurch der Euro zu einer Weichwährung mutierte. Eine besonders «klimafreundliche» Energiepolitik hat paradoxerweise zu mehr Kohlekraftwerken, einer problematischen Abhängigkeit von Russland und – wie es aktuell zu beobachten ist – zu Rekordgewinnen bei französischen Atomkraft- und Schweizer Pumpspeicherkraftwerken geführt, und dies alles auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Deutschlands wertebasierte Aussenpolitik wiederum stiess auf wenig internationalen Zuspruch und liess im Gegenteil den Einfluss des Landes in der Welt rapide sinken.

Noch gravierender sind die innenpolitischen Folgen. Die Gesellschaft ist gespalten, hasserfüllte Wahlkampfreden wecken dunkle Erinnerungen. An mutige Reformen am Sozialstaat traut sich in diesem Umfeld niemand heran. Dafür bröckelt die Schuldenbremse immer weiter, was schliesslich auch die Stabilität des Euro gefährdet. Denn der Euro kann nur überleben, wenn die EZB für ihn garantiert, und die EZB hat ihre Glaubwürdigkeit nur, wenn sie von starken, wenig verschuldeten Staaten getragen wird. Dies war bisher in erster Linie Deutschland. Wenn nun dieser stabile Anker der Eurozone die eigenen Grundprinzipien aufgibt, ist nicht nur die politische und wirtschaftliche Stabilität Deutschlands bedroht.

Was wäre zu tun? Es würde bereits helfen, wenn die deutschen Wähler bei den anstehenden Wahlen Politiker wählten, die bei Massnahmen auch die langfristigen Folgen bedenken. Ist dies zu viel verlangt? Genau diese Weitsicht liess Deutschland in der Vergangenheit florieren. Noch besteht die Möglichkeit, auf diese Erfolgsspur zurückzukehren.

Überall will das Land «Haltung zeigen» und vergisst dabei, was seinen Erfolg ausmacht.

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