Herr Geissbühler, der Ausverkauf von Anfang August wurde schnell wieder ausgebügelt. Alles wieder gut?
Die Gegenbewegung ging mir etwas zu schnell und wurde vor allem von Retail-Anlegern getragen. Dass die Nervosität an den Märkten derart in die Höhe schnellt und sich dann wieder in Luft auflöst, kommt äusserst selten vor. Die Ampeln stehen noch nicht auf Grün. Ich rechne mit einem erneuten Anstieg der Volatilität in den Herbstmonaten. Viele Privatanleger glauben, dass es nach jedem Rückschlag rasch wieder nach oben geht. Doch das könnte sich ändern.
Warum?
Ich rechne mit einer spürbaren Verlangsamung der Konjunktur in den USA. Für 2025 erwarte ich nur 1,5 Prozent Wachstum. Sogar eine technische Rezession ist möglich. Auch in der zweitgrössten Volkswirtschaft, China, kühlt sich die Wirtschaft weiter ab. In diesem Umfeld sind die Erwartungen an die Gewinne zu hoch. Für die Firmen im US-Leitindex S&P 500 wird ein Gewinnzuwachs von 14 Prozent prognostiziert. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wo der herkommen soll. Es wird Enttäuschungen geben.
Also die Reissleine ziehen?
Anleger müssen nicht zwingend aus den Märkten raus. Man kann eine vorsichtigere Gangart wählen und mehr in defensive Sektoren wechseln. Die Sektorrotation findet bereits statt. Während Technologiefirmen wie Microsoft oder Google seit Ende März an der Börse kaum vom Fleck kamen, liegen die Kurse von Sandoz, Novartis oder Roche deutlich im Plus. Die Rotation wird weitergehen. Auch Konsumwerte wie Nestlé dürften stärker gefragt sein. Wir hatten 2024 bisher ein starkes Börsenjahr. Abseits der defensiven Titel kann man ruhig einmal Gewinne mitnehmen. Auch eine ordentliche Portion Gold im Portfolio schadet nicht.
Wann können Anleger wieder mehr Risiken eingehen?
Sobald die Einkaufsmanagerindizes für die Industrie wieder über die 50er-Marke steigen. Das könnte Mitte 2025 der Fall sein. Dann wird es noch drei bis sechs Monate dauern, bis sich die Besserung in den Firmengewinnen widerspiegelt.
Aber es stehen Leitzinssenkungen auf dem Programm. Treiben diese die Börsen nicht an?
Es kommt immer darauf an, warum die Zinsen gesenkt werden. Ist die spürbare Verlangsamung der Konjunktur der Grund, helfen sie den Börsen wenig. Natürlich profitiert die Wirtschaft von den tieferen Zinsen, aber hier gibt es einen Timelag. Mitte 2025 könnte die positive Wirkung der expansiveren Geldpolitik spürbar sein.