Leidet ein Mann an einer Depression, verhält er sich oft reizbar und aggressiv und riskiert eine Fehldiagnose, während eine Frau eher zu depressiven Verstimmungen neigt. Bekommt eine Frau Psychopharmaka, so hat sie ein grösseres Risiko für Nebenwirkungen im Vergleich zum Mann. Bei Frauen wird häufiger eine Migräne diagnostiziert, obwohl es auch eine Männerkrankheit ist – nur reden Männer nicht darüber …
Beatrice Beck Schimmer ist Medizinprofessorin an der Universität Zürich, Direktorin Universitäre Medizin und Mitglied der siebenköpfigen Universitätsleitung.
Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Viele Erkrankungen, von Herzleiden über Hirnschlag bis zu Krebs, äussern sich je nach Geschlecht unterschiedlich und müssen anders behandelt werden. Worin genau die Unterschiede bestehen und wie das Gesundheitspersonal mit ihnen umgehen soll, damit beschäftigt sich die Gendermedizin als Teil der personalisierten Medizin. Diese heisst auch Präzisionsmedizin, denn sie hat zum Ziel, jeder Patientin und jedem Patienten jene Diagnostik und Therapie anzubieten, die am präzisesten auf die jeweilige Person zugeschnitten ist. Mit enormem Gewinn: Werden Menschen mit der für sie optimalen Therapie behandelt, werden sie rascher gesund. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind wichtige Faktoren, wenn es darum geht, massgeschneiderte Behandlungen zu entwickeln. Präzisionsmedizin ist ein Forschungsschwerpunkt der Universitären Medizin Zürich. Als erste Hochschule der Schweiz hat die Uni Zürich deshalb Anfang Mai einen Lehrstuhl für Gendermedizin geschaffen, um die Geschlechtermedizin zu erforschen und in die Lehre und die Praxis einzubringen.
Auch der Bund hat inzwischen die Bedeutung des Fachgebiets erkannt. Vor einem Jahr lancierte der Bundesrat das Nationale Forschungsprogramm «Gendermedizin und Gesundheit». Und vor ein paar Wochen erteilte er dem Bundesamt für Gesundheit und weiteren gesundheitspolitischen Stellen eine ganze Reihe von Aufträgen, nachdem ein Bericht, den er aufgrund eines Postulats aus dem Parlament erstellen liess, Handlungsbedarf aufgezeigt hatte. Die spezifischen Bedürfnisse von Frauen sollen demnach in der Ausbildung des Gesundheitspersonals in Zukunft besser berücksichtigt werden. Das Gleiche gilt für die Präventionsprogramme des Bundes sowie für Projekte zur Verbesserung der Behandlungsqualität.
Selbstverständlich ist das leider auch heute noch nicht, nachdem lange Zeit in vielen Bereichen der Medizin der Mann der Prototyp war. Krankheiten bei Frauen wurden oft erst spät oder gar nicht erkannt, weil die Diagnose vor allem auf männliche Symptome ausgerichtet war. Inzwischen sind wir zwar einen grossen Schritt weitergekommen, aber noch lange nicht am Ziel.
Dabei dient Gendermedizin nicht nur den Frauen, sondern genauso den Männern und auch nonbinären Menschen. Sobald wir bei den biologischen Geschlechtern zu mehr fundiertem Wissen gelangt sind, sollten wir auch Transgender-Aspekte einbeziehen. Damit die Gendermedizin immer präziser wird – zum Nutzen aller.
Nicht zuletzt profitiert auch die Wirtschaft. Eine Studie, die am diesjährigen Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos präsentiert wurde, kommt zum Schluss, dass sich Frauen in ihrem Leben um ein Viertel länger als Männer in einem schlechten gesundheitlichen Zustand befänden und deswegen nicht arbeiten könnten. Das liege unter anderem daran, dass der Schwerpunkt in der medizinischen Forschung und Behandlung eindeutig auf Männern liege. Würde diese Lücke durch eine zeitnahe Diagnose und Behandlung geschlossen und damit kranken Frauen nach ihrer Genesung eine vollständige Rückkehr ins Berufsleben ermöglicht, so würde die Weltwirtschaft bis 2040 jährlich um eine Billion Dollar angekurbelt. Das zeigt: Die Chance, unser aller Leben und die Wirtschaft zu verbessern, sollten wir uns nicht entgehen lassen.