Natürlich: Vor der Lego-Zentrale im dänischen Billund sitzt ein überlebensgrosser Legomann, mit den typischen halbrunden, gelben Greifhänden. Das Dach zum Foyer bildet ein gigantischer, gelber Legostein. Annette Stube geht die ausladende gelbe Treppe hoch. Wie in einem Legohaus verbindet die freischwebende Spirale im Atrium drei Stockwerke.
Die enorme Weltkarte, der lebensgrosse Biosphärenbaum, ein flackerndes Feuer, die reliefartigen Baumstämme im Rückzugsraum für Teamgespräche – alles ist hier aus Lego. Auch der Formel-1-Peugeot in Originalgrösse, der in der Mitte des Atriums steht. Den baute ein Team während der 24 Stunden des Autorennens im französischen Le Mans aus mehr als 600'000 Steinen. Und im Konferenzraum, in den Annette Stube bittet, hängt neben einem Whiteboard auch ein Legoboard mit Klemmsteinen. Als hätten sich die Träume mehrerer Generationen von Legospielern in eine reale Arbeitswelt verwandelt. In ein Wunderland mit Noppen und Kanten, einen Traum aus Plastik.
Womit die Dimension der Aufgabe von Annette Stube schon umrissen wäre. Seit Anfang des Jahres ist die 56-Jährige Nachhaltigkeitschefin des Konzerns. Ihre wichtigste, eigentlich einzige Aufgabe: Stube soll einen Weg finden, die Steine aus dem Hause Lego nachhaltig herzustellen. Der Stein soll bio werden, und dafür will Lego auch mehr Geld ausgeben: «Wir müssen alles tun, was wir können», sagt Stube. «Die Kinder sollen einen besseren Planeten erben.»
Legos Zukunft steht auf dem Spiel. Lange tat sich der Konzern schwer, die offensichtliche Wahrheit nur auszusprechen: Die Erfolgsgeschichte des dänischen Familienunternehmens basiert auf einem Baustein aus Plastik. Der besteht, wie nahezu jeder Kunststoff, aus Erdöl – und ist damit ein durch und durch fossiles Produkt.
Nun lassen sich Argumente finden, dem Stein die ökologische Absolution zu erteilen. Schliesslich, führt Stube aus, würden 96 Prozent aller je hergestellten Steine von ihren Besitzern für die nächste Generation aufbewahrt. «Als langlebiges Spielzeug rangieren Legosteine am anderen Ende des Kontinuums von Einwegplastik», sagt Stube. Und dennoch: Es droht der Plastikstrohhalm-Moment. Der Augenblick, in dem die öffentliche Stimmung gegen den Legostein kippt. Dass die Welt nicht ohne ihn könnte, lässt sich im Fall des Steins eher nicht behaupten. Ebenso wenig ist zu bestreiten, dass die Herstellung der Steine eine beträchtliche Menge Öl verbraucht, dass ihr Fussabdruck, nun ja, ziemlich gross und schmutzig ist. Jede Sekunde produziert Lego 1300 neue Steine, das ist der Stand 2018, neuere Zahlen kommuniziert Lego nicht. Viola Wohlgemuth, Chemieexpertin der NGO Exit Plastik, droht schon: «Umweltbewusste Eltern achten sehr darauf, welche Art von Spielzeug ins Kinderzimmer kommt.»
«Mission plastikfrei»
Einem Imagekratzer oder gar einem politisch verfügten Verbot will Lego zuvorkommen – und die Ausgangsbedingungen sind im Prinzip bestens. Der Konzern wächst munter, das Geld ist da, um sich ein paar Extrarunden zu leisten. Zugleich sind die Kunden der Plastiksteine längst an hohe Preise gewöhnt, auch einen Bioaufschlag würden sie wohl ohne grössere Proteste mitmachen. Und dennoch: Der Weg aus der Ölabhängigkeit erweist sich als steiniger, als die Manager in Billund erwartet hatten.
Vor sechs Jahren hatte Lego zum ersten Mal die «Mission plastikfrei» ausgerufen: Man werde einen Stein entwickeln, der aus rezyklierten Wasserflaschen bestehe, zu 100 Prozent öko. Wenn sogar Umweltgrosssünder wie Coca-Cola schon Flaschen aus Ökoplastik hinbekommen, so die unausgesprochene Annahme, dann wird der kuschelige Konzern Lego das erst recht schaffen. So mächtig die Ankündigung war, so gross fiel dann auch die Enttäuschung im vergangenen Herbst aus. Da musste Lego eingestehen: Die Sache mit den PET-Flaschen sei doch nicht so einfach. Man breche das Projekt ab. Aber klar, die Ökomission gehe weiter.
Das bleibt jetzt an Stube hängen, die als Nachhaltigkeitschefin Erfahrung aus ähnlich problematischen Branchen mitbringt. Zuletzt hatte die Psychologin in gleicher Position für den finnischen Papiergiganten Stora Enso gearbeitet, davor den dänischen Containerschiffgrossreeder Maersk in nachhaltigeres Fahrwasser gebracht. Ihre Herausforderung bei Lego aber stellt wohl beides in den Schatten: «Zu unserem 100-Jahr-Jubiläum im Jahr 2032 wollen wir unsere Steine aus mehr erneuerbaren und zirkulären Rohstoffen verkaufen.»
Legosteine und Ökologie, das ist ein Widerspruch in sich. Schliesslich glänzen die Steine durch zwei Eigenschaften: Sie gehen nicht kaputt, ein 60 Jahre alter Stein passt noch perfekt in einen nagelneuen. Und sieht dabei noch nahezu genauso aus wie der neue. Das schafft nur hartes Plastik. Alles, was Materialien abbaubar und damit nachhaltig macht, fehlt dem Legostein per Definition. 1,3 Milliarden Euro investiert Lego in vier Jahren noch bis 2025, um diesen Widerspruch zu überwinden. Ob das reicht? «Das ist eine lange, ambitionierte Reise», sagt Stube.
Vom Pellet zum Legostein
Die Produktionshalle in Billund ist nur eine kurze Taxifahrt von der Konzernzentrale entfernt. Besucher müssen ihre Handys einschliessen, Lego will keine Fotos von ihren geheimen Kniffen auf Social Media. Über die Köpfe hinweg führen Rohre. Durch sie rauschen in kurzen Abständen weisse Kunststoffpellets. 80 Prozent aller Legoelemente bestehen aus diesem Material: ABS, Acrylnitril-Butadien–Styrol. Das A gibt dem Material seine Langlebigkeit, das B seine gummiartige Stärke und das S seine Steifheit und Formbarkeit. Mit 60 Prozent ist Styrol, das auch zu Styropor verarbeitet wird, der Hauptbestandteil. Hergestellt wird es etwa von einer Frankfurter Tochterfirma des britischen Ineos-Konzerns oder auch vom US-Konzern Trinseo mit seinem Werk im ostdeutschen Schkopau.
Mit Luftdruck werden die ABS-Pellets aus grossen Tanks an die insgesamt 67 Spritzgussmaschinen in der Halle verteilt. Hier werden die Pellets erhitzt, bis sie zu einer Masse von zahnpastaähnlicher Konsistenz verschmelzen und sich mit der beigegebenen Farbe mischen. Die Masse wird in die Formen gepumpt, härtet kurz aus – und die Steine plumpsen in eine Sammelkiste. Ist die voll, holt ein mit Legofiguren verzierter Roboterwagen sie ab und fährt sie in einen Lagerturm. Zu Legosets sortiert und verpackt werden die Elemente dann in Tschechien.
Dank des Klemmsteins wuchs Lego zum grössten Spielzeughersteller der Welt. Allein in den vergangenen fünf Jahren stieg der Umsatz des dänischen Familienunternehmens um 80 Prozent. Mit 9,6 Milliarden Euro setzt Lego fast so viel um wie Barbie-Hersteller Mattel und Monopoly-Produzent Hasbro zusammen. Der grösste deutsche Konkurrent, Playmobil-Produzent Horst Brandstätter Group, meldete zuletzt 500 Millionen Euro Umsatz.
Spiel gut!
Ihren Ursprung hat Lego in einer Schreinerei. In den 1930er Jahren steigt Gründer Ole Kirk Kristiansen in die Herstellung von Spielzeug ein, zunächst fertigt er Feuerwehrautos und Nachziehenten aus Holz. Die sind bald so beliebt, dass Kristiansen die Spielzeugfirma Lego gründet, eine Wortschöpfung aus dem dänischen «leg godt» – spiel gut. Nach dem Krieg kauft Christiansen eine erste Spritzgussmaschine, er stellte etwa in Flugzeugen sitzende Bärchen her.
Die ersten Plastikbausteine erfindet ein Brite – doch dessen Steine klemmen nicht gut. Seit 1949 arbeitet Lego an Verbesserungen. 1958 kommt das Patent für einen 2-mal-4-Stein mit Hohlröhren innen – den «Automatic Binding Brick». Mitte der 1960er Jahre wird in Baar ZG die erste Legofabrik ausserhalb Dänemarks errichtet. Dreissig Jahre später eine weitere in Willisau. In dieser Zeit stammt rund ein Drittel der weltweiten Produktion von Lego aus der Schweiz.
Das Unternehmen wächst, bis es sich Ende der 1990er Jahre mit seiner Diversifizierung hin zu Uhren oder Kinderkleidung verhebt. Die Fabriken in der Schweiz werden geschlossen. Der Insolvenz knapp entronnen, setzt Lego wieder alles auf die Steine. Statt Sets zu verkaufen, aus denen sich alles Mögliche gestalten lässt, werden die Kreationen immer spezieller: antike Bauten, Filmfiguren, Raumschiffe – bis hin zum «Star Wars»-Set für über 800 Franken. 2024 durchbricht Lego eine Schallmauer: Insgesamt haben die Dänen jetzt eine Billion Steine hergestellt, 125 Stück für jeden Menschen auf der Erde. Damit könnte man 25 Türme bis zum Mond bauen.
Es ist eine der grossen Turnaround-Geschichten der vergangenen Jahre – mit einem Schönheitsfehler. «Lego hat immer so getan, als wüchsen ihre Steine biologisch korrekt auf Bäumen», sagt ein Insider aus der Chemieindustrie. In der Branche erzählt man sich, dass sogar Anfang des Jahrtausends an einer Plastik-Messe eine Maschine, die Legosteine auswarf, wieder abgebaut werden musste – auf Geheiss der Dänen.
Geholfen hat das wenig. 2014 gab es den ökologischen Urknall bei Lego: Als der britische Ölkonzern Shell in der Arktis nach Öl bohren wollte, geriet Lego ins Visier von Greenpeace. Man bezog seit 50 Jahren Öl von Shell. Nachdem weltweit mehr als eine Million Menschen eine Petition von Greenpeace unterzeichnet hatten, beendete Lego die Geschäftsbeziehung mit Shell.
Aber wie das Öl ersetzen? Annette Stube war erst zwei Tage an Bord, als Legos Vorzeigeprojekt, aus alten Wasserflaschen neue Steine herzustellen, spektakulär scheiterte. Ein Schock für den Konzern, auch weil die Führung den vermeintlichen Durchbruch schon wie eine Tatsache verkauft hatte: Bereits 2021 hatte das «Time»-Magazin den Recyclingstein zu einer der 100 besten Erfindungen des Jahres gekürt.
Zu Unrecht: Um den Eigenschaften des ABS-Plastiks nahezukommen, musste Lego dem PET-Material diverse Additive beimischen. Das bedeutete weitere Schritte im Produktionsprozess, neue Lieferketten und Transportwege. «Wir hätten mehr CO2 ausgestossen als im herkömmlichen Prozess», so Stube. Auch farblich enttäuschte der PET-Stein vielleicht, das rezyklierte Material weist oft einen leichten Gelbstich auf – Farbvarianzen aber sind inakzeptabel für Kooperationspartner wie Disney oder Ferrari. Und so schickte Stube ihre Leute schon kurz nach Amtsantritt wieder dorthin, wo sie zuvor jahrelang erfolglos gewerkelt hatten: ins Labor.
Die Klemmkraft zählt
Auf dem Firmencampus ist die Forschungsabteilung in einem eigenen Pavillon untergebracht. Wo noch vor wenigen Jahren fünf Chemiker arbeiteten, sind es heute mehr als 70. Laborchef Søren Kristiansen – nicht verwandt mit dem Firmengründer – arbeitet schon seit 35 Jahren für Lego. Er sucht für Stube das ultimative Ökomaterial. Die Vorgabe: Das neue Material muss nachhaltiger sein als das alte, Qualität und Sicherheit des Legosteins aber dürfen nicht leiden.
Und so wird immer wieder getestet. Eine Maschine in Kristiansens Labor etwa misst die Resilienz, ein Hammer saust hier seitlich gegen einen eingespannten Stein – je höher er ausschlägt, ehe der Stein bricht, desto stärker das Material. In einer anderen Apparatur wird getestet, wie ein Stein auf Schweiss und Spucke reagiert – das Kinderspielzeug kann auch mal im Mund landen oder mit klebrigen Händen angefasst werden. Die härteste Prüfung aber erwartet die Steine in dem Gerät, das die Klemmkraft misst: Die Steine müssen zum einen gut zusammenhalten, damit Bauprojekte gelingen. Zum anderen braucht es einen Rest an Flexibilität – genau so viel, dass sich zwei Steine nicht mit zu viel Mühe wieder voneinander lösen lassen.
«Mehr als 600 unterschiedliche Materialien haben wir getestet», sagt Kristiansen, «und am Ende bleibt ABS wirklich das am besten geeignete.» Pflanzenbasiertes PLA aus Maisstärke und Milchsäure konnte nicht gut in den Spritzgussmaschinen geformt werden, auch der biobasierte Kunststoff PBS erfüllte Legos Qualitätskriterien nicht. Immerhin zwei Alternativen konnte Lego entdecken: Klares Plastik, etwa für Minifensterscheiben, stammt aus rezyklierten Küchenarbeitsplatten. Weichere Plastikteile für Blätter etwa entstehen aus brasilianischem Zuckerrohr.
Steine aus Joghurtbechern
Nach dem PET-Desaster hat Lego ihre Mission angepasst. Zunächst soll die Beimischung von pflanzlichen Ausgangsstoffen im ABS das Klimaproblem lösen, bis genügend grosse Ströme von wiederverwendetem ABS aufgebaut sind. Wie aber erkennt der Kunde, was in seinen Steinen steckt?
Theresa Dahl, die bei Lego die nachhaltige Materialstrategie organisieren soll, trägt einen Mixer in den Raum, in dem sie Bananen zu einem Milchshake verarbeitet hat. Der enthalte zum Teil Fairtrade-Bananen und zum Teil Bananen aus konventionellem Einkauf. «Welcher Teil des Breis ist jetzt bio und welcher nicht?», fragt sie. Lego könne nicht garantieren, wie viel nachhaltiges Material genau in einem individuellen Produkt sei. Es gebe deshalb Zertifikate über den Materialmix in dem vom Hersteller bezogenen ABS.
Auch Recycling-ABS kommt infrage – etwa Mehrfach-Joghurtbecher, die sich mit einem Knick voneinander trennen lassen, weil sie immer aus Polystyrol bestehen. Im chemischen Recycling werden dessen Polymerketten, unter Hitzeeinfluss wieder aufgelöst, zu einfachem Styrol, das erneut zu ABS verarbeitet werden kann. In der EU ist der Prozess bereits als lebensmittelkonform anerkannt. Die Verfügbarkeit ist aber noch begrenzt. Kunststoffhersteller Ineos Styrolution hat sich einen ersten Materialstrom aus Belgien gesichert.
ABS kommt auch in Gehäusen von Staubsaugern, Küchengeräten oder anderem Elektromüll vor. Doch deren Plastik wird heute noch nicht gesammelt. Es dauert noch Jahre, bis die Recyclingströme aufgebaut sind. Solange rezykliertes Material knapp ist, will Lego auf nachwachsende Rohstoffe ausweichen, nach Verfeinerungsschritten können auch Soja-, Palm- oder Rapsöl zu ABS werden.
Aus Frittierfett wird ABS
Auch das aber könne nur eine Zwischenlösung sein. Zwar gelänge es so, den CO2-Fussabdruck zu verkleinern. Dafür würde Lego aber mit der Nahrungsmittelindustrie um Lebensmittel und Anbaufläche konkurrieren – und sich erneut angreifbar machen. Legos grössere Hoffnung sind die Abfälle aus den Fast-Food-Restaurants der Welt: Die Frankfurter Ineos Styrolution wie auch der US-Konzern Trinseo experimentieren bereits mit altem Frittierfett. Das könnte bedenkenlos als Rohstoff in der Produktion von ABS eingesetzt werden.
Zurück im Konferenzraum mit den Legosteinen skaliert Stube den Plan: «Vergangenes Jahr kauften wir 18 Prozent unserer Kunstharze aus zertifiziert nachwachsenden oder rezyklierten Rohstoffen ein, dieser Prozentsatz steigt im kommenden Jahr noch deutlich», sagt Stube. Das koste Geld, zwischen 40 und 100 Prozent mehr als erdölbasiertes Material. «Diese Mehrkosten absorbiert Lego – sie werden nicht an die Konsumenten weitergereicht», verspricht Stube. Sie weiss: Das Rohmaterial macht drei bis fünf Prozent vom Verkaufspreis eines Legosets aus.
Kritikern reichen auch diese Schritte nicht aus: «Muss es überhaupt so viele neue Steine geben?», fragt Plastikexpertin Wohlgemuth. «Ein Ritterburgset zum Ausleihen für drei Jahre würde mir am besten gefallen.» Danach erhielte Lego die Steine zurück und könnte sie aufgearbeitet neu verleihen. «Wenn Lego die eigenen Steine zurücknähme, sodass aus Legosteinen wieder Legosteine würden – das erst wäre ein echter Kreislauf.»