Das grosse A mit den zwei Querbalken ist allgegenwärtig in dem nüchternen Zweckbau im Schaffhauser Industriequartier direkt am Rhein: An den Glaswänden zwischen den Büros prangt es, auf den Kissen des Besuchersofas, auf den Tragetaschen für Werbedisplays. Sogar der Konferenztisch im Erdgeschoss mit Platz für zwölf Leute hat die A-Form.
A steht für Acronis, und die Softwarefirma mit Sitz in Schaffhausen ist ein diskreter Riese: Über 1600 Mitarbeiter sind weltweit für sie tätig. Soeben hat sie eine Finanzierungsrunde über eine Viertelmilliarde Dollar abgeschlossen, wichtigster Investor war die Beteiligungsgesellschaft CVC, die in der Schweiz auch schon in Sunrise und Breitling investiert war bzw. ist.
Acronis wurde dabei mit mehr als 2,5 Milliarden Dollar bewertet. Das macht sie zur wertvollsten Schweizer Softwarefirma – und zum wertvollsten Schweizer Start-up, sofern man bereit ist, eine 18 Jahre alte Firma noch als Start-up zu kategorisieren.
Acronis entwickelt Lösungen für die Sicherheit, das Back-up und die Wiederherstellung von Daten auf Computern, Servern und in der Cloud. Weltweit werden die Produkte von 5,5 Millionen Privat- und über einer halben Million Firmenkunden genutzt. In der Schweiz gehören Konzerne wie ABB, Nestlé, Novartis oder Rolex zu den Kunden, ausserdem mehr als 200 Serviceprovider wie die Swisscom, Green oder SoftwareOne. «Fast jeder nutzt uns», sagt Serguei Beloussov (49), Gründer und CEO von Acronis.
Seriengründer
Der gebürtige St. Petersburger mit Wohnsitz in Singapur ist ein Seriengründer: Neun Firmen hat er im Lauf seiner Karriere rund um die Welt aufgebaut, die meisten hat er verkauft. Dazu gründete er vier Wagniskapitalfirmen und eine wohltätige Stiftung, ihm gehören ein preisgekröntes Weingut in der Toskana und ein Restaurant in Moskau.
Beloussov hat in den USA über 200 Patente eingereicht und vier Universitätstitel gesammelt, heute ist er Milliardär. Den sowjetischen Pass hatte er schon früh getauscht gegen einen aus Singapur. Aktuell weist sein LinkedIn-Profil zehn verschiedene Jobs aus. «Es sind de facto nur drei» wiegelt er ab, «und Acronis ist mit 90 Prozent meiner Zeit klar der wichtigste.»
117 Flüge hat er im Jahr vor der Pandemie in seiner Cessna Sovereign Plus absolviert und an 200 verschiedenen Orten übernachtet: «Stress ist gut, so fühlt man sich am Leben», sagt er. Als wäre das noch nicht genug, kommen sieben Kinder von 5 bis 30 Jahren auf drei Kontinenten dazu – eine Tochter studiert an der HSG, eine weitere soll von Singapur in die Schweiz ziehen, was sich wegen Corona bislang verzögert.
Auch im persönlichen Treffen kann Beloussov seine Energie kaum kontrollieren: Immer mal wieder tigert er während des Interviews durch sein Büro, spielt mit dem Hund oder beantwortet E-Mails, ohne dabei den Faden wirklich zu verlieren.
Die Geschichte von Acronis ist verwinkelt. Im Jahr 2000 gründete Beloussov in Washington die Softwarefirma Parallels, die Virtualisierungssoftware herstellt, um etwa auf Apple-Computern Windows-Programme laufen zu lassen (Parallels wurde 2015 in vier unabhängige Firmen gesplittet, die zum Teil verkauft wurden und noch immer existieren).
Bereits 2003 ging Acronis mit Sitz in Singapur als Back-up-Sparte aus Parallels hervor. 2007 zog sich Beloussov bei Acronis ins Board zurück und konzentrierte sich auf andere Aktivitäten; 2013 kam er als CEO zurück. Mit 30 Prozent der Anteile ist er bis heute der grösste Aktionär; zusammen mit Mitgründer und Chairman Ilya Zubarev hält er die Mehrheit.
5,5 Millionen Privat- und über eine halbe Million Firmenkunden nutzen Acronis-Produkte.
Nach Schaffhausen kam Acronis 2008, weil «Singapur aus verschiedenen Gründen nicht ideal ist für ein Hauptquartier», wie Beloussov sagt: die Distanzen (drei Viertel des Umsatzes erzielt Acronis ausserhalb Asiens), die Regelungen für geistiges Eigentum, Steuergründe. Nach der Prüfung verschiedener Standorte fiel die Wahl auf die Schweiz. Und auf Schaffhausen, weil es nahe Zürich ist und an der Grenze zu Deutschland, dem grössten nicht-angelsächsischen Markt für Acronis. «Und Zug und Schwyz sind ziemlich überfüllt», sagt Beloussov.
Die Offices in Singapur dienen heute nur noch als operatives Hauptquartier, daneben hat Acronis 35 weitere Niederlassungen. Im offiziellen Hauptquartier in Schaffhausen finden die VR-Sitzungen statt, die Treffen mit Vertriebspartnern und die Kadermeetings, ausserdem werden Teile der Entwicklung hier erledigt (der Forschungsleiter für Cyber Protection, Candid Wüest, ist Schaffhauser) sowie der Programmierung.
Rund 35 Personen arbeiten fix hier. Laut Beloussov könnten es gerne mehr sein, doch die entsprechenden Experten sind hierzulande kaum zu finden und Arbeitsgenehmigungen für Ausländer schwierig zu bekommen. Deshalb sollen nun die Kooperationen mit der ETH, der HSG und der EPFL ausgebaut werden. Beloussov selbst verbringt nach eigenen Worten 70 bis 90 Tage pro Jahr in Schaffhausen, er hat eine Wohnung in Gehreichweite zu den Büros. Zudem sass er fünf Jahre im Board des Genfer Start-up ID Quantique, bevor dieses 2018 an die südkoreanische SK Telecom verkauft wurde.
Damit es Beloussov auch ja nicht langweilig wird, baut er seit ein paar Jahren auch noch eine eigene Uni auf, das Schaffhausen Institute of Technology (SIT). 100 Millionen will er bis 2028 investiert haben, in 15 Jahren soll das Institut 30 Lehrstühle und 2000 Studenten zählen – von denen Beloussov den einen oder anderen für Acronis zu rekrutieren hofft.
Corona verzögerte das Projekt, nun nahmen im März die ersten sieben Teilnehmer eines Teststudiengangs ihren Mastertitel in Empfang. «Ich werde eines Tages bei Acronis zurücktreten, es gibt bessere Leute, um die Firma zu leiten», sagt Beloussov: «Dann ist SIT mein nächstes Projekt.»
Vorher aber soll Acronis noch mal kräftig wachsen. «Zwischen 200 und 600 Millionen Dollar» Umsatz mache die Firma derzeit, sagt Beloussov; angesichts der hohen Bewertung dürfte die Zahl wohl ziemlich am oberen Ende der Spanne liegen.
Alle Daten, Systeme und Anwendungen zu schützen, ist seine Vision. Mit dem Geld soll die Zahl der eigenen Datacenter massiv wachsen, von derzeit 35 auf 300; ebenso die Zahl der eigenen Netzwerkknoten: «Wir wollen in jedem wichtigen Land präsent sein», sagt Beloussov.
Börsengerüchte
Zudem sollen weitere Vertriebspartner – Telekomanbieter, Serviceprovider, Hostingfirmen – rund um den Globus gefunden werden, denen Acronis bereits jetzt den Löwenanteil ihres Geschäftes verdankt. Die Pandemie hat dabei geholfen: Viele Firmen, gerade KMUs, haben realisiert, dass es für eine funktions- und leistungsfähige IT sinnvoll sein kann, deren Betrieb an einen Serviceprovider outzusourcen.
Besonders das Cloudgeschäft wuchs für Acronis in den letzten 15 Monaten rasant, während das klassische Geschäft mit Privatkunden zurückging. Das 2019 ausgegebene Wachstumsziel von 50 Prozent pro Jahr wurde daher zuletzt verfehlt.
Und irgendwann soll Acronis an die Börse gehen, wohl eher an die Nasdaq als an die SIX. Es wäre der bisher grösste Exit für den Seriengründer. Entsprechende Gerüchte gab es bereits 2015 und 2019. Jetzt ist der Kapitalbedarf durch die Finanzierungsrunde erst mal gestillt, aber CVC ist auch bekannt dafür, dass sie nach ein paar Jahren Geld sehen will. «Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Aktionäre mit Liquidität zu versorgen, etwa durch Dividenden oder Abspaltungen», sagt Beloussov: «Mit einem Börsengang hat es CVC nicht eilig.»
Für den hyperaktiven Unternehmer muss sich das fast anhören wie eine Beleidigung.