Der junge Alexander ist gerade nach Minsk gezogen. Vor Kurzem hat er seine Frau verloren und muss sein Leben mit einer kleinen Tochter neu ordnen. Die Begegnung mit der aufdringlichen alten Nachbarin im Treppenhaus kommt ihm da denkbar ungelegen. Als sie auch noch ein rotes Kreuz an seine Wohnungstür malt, glaubt er zunächst an einen schlechten Scherz. Doch Tatjana Alexejewna braucht das Kreuz, um den Weg nach Hause zu finden. Sie ist an Alzheimer erkrankt und liefert dafür gleich eine Erklärung: «... jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst, mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse.»
In «Rote Kreuze» erzählt Tatjana ihrem neuen Nachbarn ihre schier unglaubliche Lebensgeschichte. Als junge Fremdsprachensekretärin im russischen Aussenministerium übersetzt sie während des Zweiten Weltkriegs Briefe des Internationalen Roten Kreuzes in Genf. Auf einer Liste von Kriegsgefangenen entdeckt sie den Namen ihres Mannes. Kriegsgefangene gelten in der Sowjetunion unter Stalin als Verräter.
Ihnen und ihren Familien drohen Verfolgung, Deportation und Exekution. In grosser Zerrissenheit löscht Tatjana den Namen ihres Mannes und dupliziert jenen des Soldaten vor ihm auf der Liste. Nach Kriegsende wird Tatjana inhaftiert und muss unter grausamsten Bedingungen zehn Jahre im Lager einsitzen. Die Hoffnung, ihren Mann und ihre Tochter wiederzufinden, hält sie am Leben.
Der Wunsch der Leserin, dass sich für Tatjana alles zum Guten wendet, erfüllt sich nicht. Brechen lässt sie sich aber nicht. Nach ihrer Entlassung aus dem Lager will sie noch eine Aufgabe erfüllen: den Soldaten, den sie damals doppelt auf die Liste schrieb, dafür um Vergebung bitten. Bis zum Schluss bewahrt sie sich ihren Kampfgeist und ihren bissigen Humor. Die roten Kreuze ziehen sich durch das ganze Buch – nur zu oft stehen sie für den Tod von geliebten Menschen, aber sie sind auch stets eine Metapher für Hoffnung und Trost.
Und die Inschrift des letzten roten Kreuzes – des Grabkreuzes von Tatjana – lässt einen mit einem Lächeln auf dem Gesicht zurück. Die Inschrift lautet: «Geht mir bitte nicht auf den Geist.»
Der Roman ist ein bewegendes Stück Zeitgeschichte. Der junge weissrussische Autor Filipenko verwebt die tragischen Schicksale der beiden Protagonisten aus zwei Generationen und trägt die Verbrechen des Stalin-Regimes in die Gegenwart. Die im Buch abgedruckten originalen Briefe des Internationalen Roten Kreuzes sind heute der Öffentlichkeit nicht überall zugänglich. Umso wichtiger ist der Kampf gegen das Vergessen.