Das Jahr 2021 war ein Rekordjahr für Venture Capital. Alleine in den USA wurden 330 Milliarden USD in Startups investiert – fast das doppelte vom bisherigen Rekordjahr 2020 mit 167 Milliarden. Dasselbe gilt für Exits – Startups mit Venture Investoren wurden 2021 bei ihrem Börsengang oder ihrer Akquisition mit 774 Milliarden bewertet, gegenüber 289 Milliarden im Jahr 2020.
Der Elektrofahrzeughersteller Rivian sticht dabei heraus. Obwohl die Firma erst im September 2021 damit begann, Fahrzeuge zu produzieren und bis Ende Jahr nur gerade 1'015 Autos fertigstellen konnte, war sie für die zweit- und drittgrösste private Finanzierungsrunde sowie den grössten Tech Börsengang in den USA verantwortlich! Im Januar 2021 nahm die Firma 2.65 Milliarden USD auf, im Juli kamen noch einmal 2.5 Milliarden hinzu, und im November schliesslich nahm Rivian 12 Milliarden beim Börsengang zu einer Bewertung von 66.5 Milliarden auf.
Auffallend war 2021 auch, dass Finanzierungsrunden von über 100 Millionen USD (sogenannte «Mega Rounds») 58 Prozent des investierten Kapitals ausmachten, gegenüber 46 Prozent in 2020. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass sogenannte nicht-traditionelle Venture-Investoren wie Hedge Funds und Private Equity- Firmen 2021 für ganze 77 Prozent des investierten Kapitals verantwortlich waren, weil mit Late Stage-Investments in den letzten Jahren schnell viel Geld verdient werden konnte.
Da diese nicht-traditionellen Investoren tiefere Return-Erwartungen haben als Venture Funds, konnten sie es sich leisten, höhere Preise zu bezahlen, um sich in sehr kompetitiven Finanzierungsrunden durchzusetzen. Dabei haben sie teilweise Bewertungen von mehr als 100-mal dem sogenannten NTM Umsatz Multiple («Next Twelve Month» - das heisst das Umsatzvielfache basierend auf dem erwarteten Umsatz der nächsten zwölf Monate) akzeptiert. Was angemessen schien, weil börsenkotierte Softwarefirmen wie Snowflake teilweise zu NTM-Umsatz Multiples von über 80 gehandelt wurden. Im historischen Kontext, in dem NTM Multiples von 10 für schnell wachsende börsenkotierte Softwarefirmen eher die Norm waren, ist dies sehr hoch.
«Multiple Contraction» für Technologiefirmen
Vor allem in den letzten zwei Jahren haben viele Startups dieses Kapitalumfeld zu ihren Gunsten genutzt und Kapital zu sehr hohen (gewisse Stimmen sagen auch: komplett überrissenen) Bewertungen aufgenommen. Seit spätestens November 2021 hat jedoch ein neues Zeitalter begonnen – getrieben vom Marktumfeld und dem teilweise verlangsamten Wachstum von Technologiefirmen in einer postpandemischen Welt.
Infolgedessen haben sich die Bewertungen und NTM Multiples von börsenkotierten Technologiefirmen deutlich reduziert - Robinhood zum Beispiel wird mit einem Minus von 90 Prozent gegenüber dem Höchstwert vor wenigen Monaten bewertet, und Snowflake ist nicht einmal mehr halb so viel wert wie noch im November (bei einem NTM Multiple von inzwischen teilweise unter 30) – trotz weiterhin stark wachsendem Umsatz. Oder um es anders darzustellen: Das Schwedische Fintech Unternehmen Klarna ist basierend auf der letzten privaten Finanzierungsrunde (639 Millionen USD im Juni 2021 bei einer Bewertung von 46 Milliarden aufgenommen) Stand Mitte März 2022 mehr wert, als es die Fintechfirmen Robinhood, Opendoor, Marqueta, Affirm, Toast, Blend und Sofi es zusammen an der Börse sind.
Diese sogenannte «Multiple Contraction» an den Börsen hat auch einen Einfluss auf die Bewertungen von Privatmarktfirmen – vor allem Late Stage-Startups. Instacart zum Beispiel hat intern die Firmenbewertung auf 24 Milliarden USD gesenkt – bei der letzten privaten Finanzierungsrunde im 2021 waren es noch 39 Milliarden – trotz anzunehmendem Umsatzwachstum in den letzten zwölf Monaten. Dies, um eine Anstellung bei Instacart für neue Mitarbeiter attraktiver zu machen, da sie nun die Optionen zu einem tieferen Preis kaufen können. Bei der alten Bewertung war eine weitere Wertsteigerung kaum noch realistisch (zumindest im aktuellen Marktumfeld). Für existierende Mitarbeiter hingegen, die ihre Optionen zum alten Preis erhalten haben, ist dies nicht sonderlich motivierend.
Das bedeutet, wenn ein Late Stage-Startup im Herbst eine Finanzierungsrunde zu einer Bewertung mit einem sehr hohen NTM-Umsatzmultiple aufgenommen hat, so muss es bei einer Multiple Contraction von 50 Prozent die (wohl schon sehr ambitionierten) Umsatzerwartungen über die nächsten zwölf Monate mehr als verdoppeln, um ein Jahr später Kapital zu einer höheren Bewertung aufnehmen zu können. Ansonsten droht eine sogenannte „Down Round“ (tieferer Aktienpreis als in der letzten Runde) oder eine „Flat Round“ (selber Aktienpreis wie in der letzten Runde).
Erschwerend kommt hinzu, dass sich aktuell viele der nicht traditionellen Venture-Investoren vorläufig aus dem Late Stage-Finanzierungsumfeld zurückgezogen haben. Damit fällt eine der wichtigsten Finanzierungsquellen für späte Finanzierungsrunden weg.
Schwierige Situation für «Late Stage»-Startups
Diese Korrektur bring vor allem Late Stage-Startups in eine sehr unangenehme Situation: Sie haben sehr hohe Kosten (teilweise auch wegen stark gestiegenen Mitarbeiterkosten in den letzten Jahren), und sie haben ihre Finanzierungsstrategie in den letzten Jahren dem äusserst liquiden Kapitalumfeld angepasst. Das heisst, sie gingen davon aus, dass sie - solange ihr Umsatz weiter steigt - alle sechs bis zwölf Monate eine neue Finanzierungsrunde zu immer höheren Bewertungen aufnehmen können.
Pascal Unger ist Managing Partner bei der Venture-Capital-Gesellschaft Darling Ventures in San Francisco.
Da dies im momentanen Marktumfeld nun deutlich schwieriger bis unmöglich ist, erwarten viele Brancheninsider, dass wir in den nächsten Monaten grössere Entlassungswellen sehen, um Finanzierungsrunden hinauszuschieben, und dass viele Unternehmen gezwungenermassen Kapital zu tieferen Bewertungen aufnehmen müssen. Das wird es deutlich schwieriger machen, die besten Mitarbeiter zu halten, da ein wesentlicher Teil ihrer Vergütung auf Unternehmensanteilen in der Form von Optionen basiert, und somit ihre Saläre sinken. Im schlimmsten Fall kommen bei solchen Down Rounds auch noch Klauseln von Investoren hinzu, welche die Mitarbeiter und Gründer zusätzlich benachteiligen und so den Wert ihrer Aktien weiter mindern. Zudem verlieren die Mitarbeiter leicht den Glauben an das Unternehmen, und das negative Signal einer Down Round zusammen mit Entlassungen machen es fast unmöglich, neue gute Mitarbeiter anzulocken, ohne diese über dem Marktwert zu bezahlen (wegen des höher empfundenen Risikos eines schlechten Exits). Dies alles führt dazu, dass sich die Zukunftsaussichten für solche Unternehmen weiter verschlechtern.
Noch ist kein bekannter Name davon betroffen, und es werden noch immer grosse Finanzierungsrunden zu hohen Bewertungen bekanntgegeben, aber die meisten davon wurden schon im Q4 2021 abgeschlossen. Und Brancheninsider sind sich sicher, dass spätestens in der zweiten Jahreshälfte vermehrt Startups Opfer ihrer Exzesse werden und Konkurs anmelden müssen, wenn sich das Marktumfeld nicht wieder stark verbessert. Oder wie der bekannte Venture Capital Investor Elad Gil twitterte: «Das aktuelle Privatmarktumfeld fühlt sich an wie ein Kellner, der ein grosses Tablett mit Tellern und Gläsern trägt und gerade gestolpert ist. Alles auf dem Tablett wackelt, aber noch ist nichts runtergefallen».
Early Stage-Startups sind weniger betroffen
Nicht nur für Late Stage-Startups ist das Finanzierungsumfeld in den letzten Monaten schwieriger geworden – mit tieferen Bewertungen in den späten Finanzierungsrunden sinken langsam, aber sicher auch die Bewertungen in den früheren Runden. Niemand will mehr bezahlen, als dies die nächsten Investoren tun werden. Dementsprechend ist die Korrektur in allen Finanzierungsphasen zunehmend spürbar.
Je früher die Phase, in der sich ein Startup befindet, desto geringer ist dies jedoch der Fall – auch, weil immer noch sehr viel Kapital vorhanden ist, das in Jungfirmen investiert werden kann. Und bis die Early Stage-Startups (in mehreren Jahren) bereit sind, um an die Börse zu gehen, sieht die Welt hoffentlich wieder ganz anders aus. Nichtsdestotrotz haben viele Investoren damit begonnen, die Ausgaben der Startups wieder genauer unter die Lupe zu nehmen und pochen nun vermehrt auf konservativere Kostenstrukturen.
Aber das Marktumfeld bietet auch Chancen
Nicht für alle Startups führt das aktuelle Marktumfeld zu Katerstimmung – viele haben sich schon seit längerem mit einer möglichen Korrektur befasst und haben dementsprechend konservativ Kapital aufgenommen beziehungsweise ihre Kostenstruktur in den Griff bekommen. Dementsprechend gerüstet sind sie für das neue Kapitalumfeld.
Und solche Marktkorrekturen bringen auch viele Chancen für Unternehmen mit sich. Eine Reduktion der sehr hohen Saläre für Angestellte im Technologiesektor schadet den Firmen sicher nicht. Und während sich die Konkurrenz Sorgen um das Überleben machen muss, können gut aufgestellte (und oftmals auch junge) Startups Marktanteile gewinnen.