Man könnte am Verstand der Börsianer zu zweifeln beginnen: Im ersten Halbjahr 2023 hat Nahrungsmittelgigant Nestlé beim organischen Wachstum und auch bei den Gewinnmargen die Erwartungen der Anleger übertroffen und zugleich auch noch die Wachstumsprognose fürs laufende Jahr erhöht, hält zudem die ewigen Konkurrenten Danone und Unilever auf Abstand – aber der Aktienkurs gibt dennoch stetig nach. Inzwischen nähert er sich gefährlich der magischen 100-Franken-Schwelle; diese hatte Nestlé seit zweieinhalb Jahren nicht mehr unterquert. Was ist denn da los?
Drei Gründe dürften einschlägig sein. Erstens die nach wie vor laufende strategische Initiative, dass sich Nestlé «in grösserem Umfang von Produkten verabschiedet, die viel Produktionskapazität binden, aber nur mässige Wachstumsaussichten haben, und eine stark unterdurchschnittliche Profitabilität», sagt Daniele Scilingo, Leiter des Teams für Schweizer Aktien bei der Bank Mirabaud. Beispiele sind das Geschäft mit regionalen Wassermarken oder Speiseeis. Scilingos Schluss: «Die Investoren haben zu wenig realisiert, dass ein Grossteil des Volumenrückgangs auf dieser strategischen Initiative beruht.»
Zweitens eine gewisse natürliche Korrektur: Der gesamte Schweizer Aktienmarkt befinde sich seit Mitte Mai in einer Konsolidierungsphase, «da kann sich auch eine Nestlé nicht entziehen», sagt Daniel Häuselmann, der bei GAM das Team für Schweizer Aktien führt. Nestlé habe dank ihrem robusten Geschäftsmodell in den letzten Jahren überdurchschnittlich zugelegt bei der Bewertung, weil viele Investoren defensive Anlagen favorisiert haben – aufgrund grundlegender Unsicherheiten durch Themen wie Covid oder weltpolitische Spannungen. Diese hohe Bewertung baue die Nestlé-Aktie nun allmählich ab.
Den dritten, womöglich wichtigsten Grund spricht Häuselmann ebenfalls an: der starke Schweizer Franken und die steigenden Zinsen. Vor allem Letztere machen der Nestlé-Aktie zu schaffen. Denn sie gilt dank dem stabilen, berechenbaren Geschäft mit stetigem Wachstum als für viele Anleger perfekte Alternative, wenn Anleihen oder Festgeld aufgrund niedriger Zinsen zu Nullrenditen tendieren. Doch nun heben die Notenbanken seit Monaten ihre Raten – Geld kostet wieder mehr, daher können Anleger wieder Zinsen einstreichen. Bruno Monteyne, Nestlé-Experte bei Bernstein Research, sagt glasklar: «Steigende Zinsen helfen diesem Bond-Proxy nicht.» Soll heissen: Die Nestlé-Aktie taugt aktuell nicht als Ersatz für Bonds. Obwohl er Nestlé nach wie vor, betont Monteyne, als «sicheren Hafen par excellence» sehe.