Kleidung ist für viele Männer eine mühsame Sache, die sie nur zu gerne delegieren: an die Mutter, die Gattin, die Freundin oder, wenns exklusiv sein soll, den Personal Shopper. Bloss nicht übers Outfit nachdenken gilt für manche noch immer als männlich.
So ein alter Hut. Denn wer sich so aufführt, verrät eigentlich nur eines über sich: alt beziehungsweise altmodisch zu sein. Inzwischen kennen wir in Mitteleuropa seit über 75 Jahren die Freuden der allzeit verfügbaren Mode ab Stange – oder Konfektion, wie sie früher hiess. Etwas eleganter: Prèt-à-porter, Ready-to-wear – bereit, getragen zu werden. Kleidung ist für die meisten heute lebenden Männer seit je unbeschränkt und günstig verfügbar. Man hätte also genügend Zeit gehabt, sich damit anzufreunden.
Noch ist es nicht zu spät. Denn die Mode vollzieht gerade eine fabulöse Pirouette, sie macht so etwas wie den doppelten Tsukahara – einen Doppelsalto rückwärts mit integrierter ganzer Längsachsendrehung. Denn zum einen öffnet sich in Richtung genderfluid, nonbinär, New Identities, Jugendmode und queer-chic ein riesiges Feld der neuen Moden, das von den nach Jugendlichkeit lechzenden Luxusmarken umworben wird. Zum anderen gibt es einen sanften neokonservativen Swingback. Das Wiedererwachen der Klassik gefällt nicht nur «Best Agers», sondern auch jüngeren Männern, für die ein Anzug und eine Krawatte einen eigentümlichen, unbekannten Reiz hat.
Beide Entwicklungen – das Auflösen der Regeln wie das Comeback der alten Referenzen – geschehen simultan. Denn das ist das Kennzeichen der Mode von heute: Es gibt nicht mehr das eine oder das andere, sondern immer ein Sowohl-als-auch. Der eine Trend wird immer durch seinen Gegenpol in Schach gehalten. Manche glauben, dadurch ergebe sich ein Stillstand, doch das stimmt nicht, es ist eher so etwas wie ein produktiver Waffenstillstand: Beide Welten entwickeln sich parallel frei weiter. Und natürlich gibt es auch immer Schnittmengen.
Optische Visitenkarte
Die Branche bietet für jeden, der sich weiterentwickeln möchte, genügend Steigbügel – um es auf Bonanza-Deutsch zu sagen. Vom gemütlichen Schritt über sanftes Traben bis zu gestrecktem Galopp ist jede Gangart drin. Wir müssen nur wollen – und wir wollen!
Denn Kleidung ist nicht nur eine erstklassige Visitenkarte, sondern auch ein gnädiger Weichzeichner. Seien wir ehrlich: Nackt sind die meisten von uns nicht schön anzuschauen. Irgendwo gibt es am nackten Leib immer zu viel oder zu wenig, ganz egal, wie viel man dafür tut. Aber mit Klamotten sehen viele von uns ganz passabel aus, manche sogar grossartig. Dafür haben wir 175 Jahre Blut, Schweiss und Tränen investiert. So alt ist das, was wir heute als klassische Menswear bezeichnen.
In der viktorianischen Zeit entstand das, was wir heute tragen. Als Folge der Industriellen Revolution, aber auch als Ausdruck einer neuen Zeit, die demokratischer und weniger hierarchisch sein sollte. Männer begannen, einfarbige Anzüge (damals noch Dreiteiler) zu tragen. Dazu ein Hemd und eine Krawatte sowie gute Schuhe. Später kam die Sportswear hinzu, nach dem Zweiten Weltkrieg die Casualwear, also gepflegte Freizeitbekleidung, und schliesslich, ab 1980, die Streetwear. Alle diese Phänomene sind heute fester Bestandteil des modernen Modecocktails. Sie bilden den Kanon dessen, was wir heute tragen.
Wer Stil hat, mischt. High und Low, Laut und Leise, Fein und Edgy, Alt und Neu, Vintage und Hype – das sind die Merkmale, die eine interessante und individuelle Garderobe ausmachen. Die grossen Stilvorbilder, nach denen wir uns strecken, sind nicht einfach perfekt und regelkonform. Es sind die Brüche und Widersprüche, die sie interessant machen. Alles von einem einzigen Qualitätshersteller zu kaufen und sich von Kopf bis Fuss nach dem Katalog einer Marke zu kleiden, mag bequem sein – aber originell ist es nicht. Wer modische Kompetenz hat, kreiert seine eigene Rezeptur.
Nonchalance und Lässigkeit
Man schaue sich einen zeitgenössischen Stilgott wie Jeff Goldblum an – er trägt mit bald 70 Jahren lässig Dinge, die sich 40 Jahre jüngere Männer nicht zu kombinieren getrauen würden. Sicher, er hat einen Stylisten, der sein Image bewusst steuert – aber er muss das alles ja auch selbst zulassen, sonst ginge es nicht. Goldblum hat die Erfahrung und Reife, um etwas zu wagen. «Stil entwickelt und verfeinert sich mit den Jahren», sagte der Stilpublizist und Buchautor G. Bruce Boyer gerne, «man findet ihn nicht im Schaufenster, und er zeigt sich nicht darin, die gerade angesagten Labels zu kennen» – wir möchten dem wenig hinzufügen.
Natürlich muss alles mit Nonchalance und Lässigkeit geschehen. «Ein Mann sollte so aussehen, als hätte er seine Kleidung mit Köpfchen gekauft, sie mit Sorgfalt angezogen – und dann keine Gedanken mehr daran verschwendet», sagte der englische Schneider Hardy Amies. Man halte sich also von allzu modischen Exzessen fern, denn dem, was gerade «angesagt» ist, fehlt die Beiläufigkeit, auf die es ankommt. «Trendy ist oft die letzte Stufe vor der Geschmacklosigkeit», so eines der vielen Bonmots Karl Lagerfelds.
Darum: gute Klassik! Man wird ihrer nicht so leicht überdrüssig. Der Genuss, in eine frisch gebügelte Hose zu steigen und zu sehen, wie der Umschlag einen sanften Knick auf dem Rist des Fusses macht. Das gute Gefühl eines frischen Hemdes, das man morgens anzieht und das dem Gesicht einen sanften Lichtschein gibt. Das Privileg, einen schönen Schuh zu schnüren und zu spüren, wie man sicherer im Leben steht. Die Verblüffung, die man spürt, wenn man ein gut geschnittenes Jackett anzieht und es einen aufrichtet, wie wenn eine unsichtbare Hand am Rückgrat gezogen hätte. All dies sind sensorische Effekte, die gute Kleidung hervorrufen kann. Sie sind mehr wert als jedes Etikett.
Darum prüfen Sie, bevor Sie etwas kaufen, nicht nur die Preis-, Hersteller- und Materialschilder, sondern auch den emotionalen Mehrwert eines Kleidungsstücks. Löst es in Ihnen etwas aus? Fühlen Sie sich getriggert? Überfordert es Sie im ersten Moment vielleicht sogar ein wenig? Strapaziert es Ihr Budget? Dann sind Sie auf dem richtigen Weg. Gute Kleidung bleibt nicht stehen, sondern fordert Sie immer heraus, einen Schritt mehr zu machen. Zu Ihrem eigenen Vorteil und als Beitrag zur Evolution, die stets weitergeht. Wir sind nur ein kleines Steinchen auf diesem Weg. Also sollten wir schauen, dass es wenigstens schön glänzt.