Herr Müller, die aktuellen Exportzahlen des Uhrenverbands legen nahe, dass es nicht so schlimm kommt wie befürchtet. Oder?
Meine Prognose von minus fünf Prozent bei den Exporten ist ein Durchschnittswert. Man muss wissen, dass fünf Marken, die mehr als 50 Prozent des gesamten Umsatzes der schweizerischen Uhrenindustrie ausmachen, höchstwahrscheinlich eine schwarze Null beim Wachstum schreiben werden.
Das heisst?
Dass viele Marken im zweistelligen Minusbereich liegen werden. Man sieht das ganz klar in den Exportstatistiken nach Preissegmenten. 2024 legt – mit Ausnahme von Rolex – nur das oberste Preissegment noch Wachstum hin. Rolex ist eine der ganz wenigen Marken, die dieses Jahr wohl Wachstum generieren werden, einerseits durch Preiserhöhungen, anderseits durch einen Produktmix, der mit teureren Uhren nach oben tendiert.
Es kommt also mehr oder weniger so, wie Sie Anfang Jahr prognostiziert haben …
… als Einziger, wie ich in aller Bescheidenheit betonen möchte, sonst traute sich im Januar ja noch niemand, eine Prognose abzugeben. Wie sagte Niels Bohr doch so trefflich? «Voraussagen sind schwierig – vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.» Nun, kurz vor Schluss, wird sich das ändern: Ab 30. November wird es mehr Experten geben, die eine Einschätzung wagen.
Sie haben ein Minus von fünf Prozent genannt. Werden Sie nach den jüngsten Entwicklungen nach oben korrigieren?
Wir werden wahrscheinlich eher bei einem Minus von drei Prozent abschliessen. Ich bin froh, wenn es ein bisschen besser kommt, als ich es ursprünglich prognostiziert hatte. Wichtig ist: Die mittelfristige Tendenz bleibt negativ, obschon die Vergleichsbasis für 2025 nun tiefer wird. Allerdings sind wir immer noch über 2022, und das war vor 2023 ein Rekordjahr.
In der Exportstatistik von Ende Oktober gibt es einen unglaublichen Schub aus Märkten wie Taiwan, Indien und Mexiko, die im Vergleich zum Oktober 2023 7,5, 33,9 respektive 28,8 Prozent zugelegt haben. Wie muss man das verstehen?
Mit diesen Zahlen muss man ebenfalls vorsichtig sein. Auch weil gewisse Länder als Endziel des Exports angegeben werden, die Ware letztendlich aber woandershin geschickt wird.
Wie bitte?
Das geschieht in der Freihandelszone des Zolls, vor allem am Genfer Flughafen, dem grössten Uhrenlager der Welt. Da kommt etwas mit Destination A rein und wird dann nach B verschickt. Das heisst Graumarkt, doch ich will nicht weiter in die Details gehen.
Was hat es mit den Ländern in obiger Aufzählung auf sich? Beginnen wir mit Mexiko.
Mexiko hat auch dieses Jahr – Stand Ende Oktober – über 17 Prozent zugelegt. Dieser Markt entwickelt sich seit Jahren sehr positiv und wird meiner Ansicht nach oft unterschätzt. Viele sehen das Land bestenfalls als Reisedestination. Dabei hat Mexiko dieses Jahr China vom ersten Rang der Handelspartner der USA, der grössten Wirtschaftsmacht in der Welt, abgelöst. Die Retailinfrastruktur ist top, und die zweimal jährlich stattfindende Messe, die SIAR, ist eine tolle Vitrine, um Uhren zu verkaufen.
Was ist mit Indien und Taiwan?
Taiwan ist trotz komplizierter geopolitischer Lage immer noch eine prosperierende Wirtschaftsmacht. Es gibt historisch gesehen seit je eine unglaublich grosse und aktive Uhrensammler-Community, die hilft, das Wachstum beizubehalten, vor allem im Hochpreissegment. Indien wächst mit 24 Prozent, aber wenn ich meine Kontakte vor Ort dazu befrage, sind sie eher skeptisch gegenüber diesen Zahlen. Kommt dazu, dass Indien die Importzölle für Luxusuhren schrittweise auf null reduzieren will. Das wird sieben Jahre in Anspruch nehmen ab dem Moment, da beide Parlamente den Freihandelsvertrag zwischen der EFTA und Indien abgesegnet haben werden.
Letzten Monat haben Sie darauf hingewiesen, dass das anders kommen wird.
Ja, die indischen Medien haben bereits angekündigt, dass die Regierung plant, ihre Mehrwertsteuer, unter anderem auf Luxusuhren, um zehn Prozentpunkte hochzuschrauben.
Das heisst?
Indien wird sicherlich kein neues China für Luxusprodukte werden, zumindest nicht mittelfristig. Aber: Indien bleibt ein Riesenmarkt, der stark wächst und für viele Marken ein Riesenpotenzial darstellt, vor allem im Mittelpreissegment.
Dann werden nun andere Marken zu den Zugpferden in der Exportstatistik?
Jetzt kommt die Stunde von Marken wie Tissot, Longines, Frederique Constant oder Raymond Weil. Aber auch von neueren Mikromarken wie Ba111od, Furlan Marri und Dutzenden anderen, die jeweils ein paar tausend Uhren verkaufen. In wirtschaftlich unsicheren Zeiten läuft nur Tiefpreis oder Ultraluxus, EasyJet oder Private Jet, Tissot oder Richard Mille. Der Konsument will ein gutes Preis- Leistungs-Verhältnis, und wenn dann noch das Prestige der Geschichte dazukommt wie bei Tissot oder Longines, ist das auf sicher ein Winner, und zwar vor allem in Ländern wie China oder Indien, wo die Mittelklasse sehr stark wächst und der sogenannte Aspirational Luxury mehr Chancen hat als Premium, mit dem man weder die Ultrareichen noch die Mittelschicht erreicht.
Sie haben im letzten Monatsgespräch ein düsteres Bild vom Zustand der Zulieferindustrie gezeichnet. Bringen die neusten Entwicklungen Entspannung?
Leider hat sich die Situation nicht verbessert, ganz im Gegenteil, und man hört von Bestellungen, die für nächstes Jahr massiv gekürzt wurden. Ich erwarte leider keine Verbesserung vor mindestens zwölf Monaten.
Mein persönliches Highlight im November war der Grand Prix d’Horlogerie de Genève. Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Preisverleihung für die Branche als Ganzes ein?
Dieser Preis ist sehr prestigeträchtig nach aussen, aber die wichtigsten Schweizer Uhrenmarken nehmen leider nicht daran teil. Von den Preisträgern waren nur zwei Marken aus den Top 20 von Morgan Stanleys jährlicher Liste. Oder anders ausgedrückt: Die 14 Schweizer Marken von insgesamt 17, die bei der diesjährigen Ausgabe prämiert wurden, repräsentieren vier Prozent des gesamten Umsatzes der Schweizer Uhrenindustrie.
Wichtige Marken wie Rolex oder Patek Philippe nehmen ja auch nicht teil.
Es gibt vieles, was man verbessern könnte, aber man muss aufpassen, dass dabei das Wesentliche nicht vergessen geht: Die «Oscars der Uhrmacherei» senden eine positive und glamouröse Message aus. Ich hatte das Glück, für gewisse Marken Preise abzuholen, und ich kann Ihnen versichern, dass man als Preisträger, vor allem als junge Marke, sofort ernst genommen wird. Man darf diesen Preis nicht aus Schweizer Perspektive beurteilen, sondern mit den Augen eines «Uhrennarrs» aus China oder den USA, der den GPHG erwartet wie ein Kind Weihnachten.
Was sagen Sie konkret zur Preisvergabe 2024?
Da möchte ich nur eins betonen: Ein Durchschnittspreis von über 200’000 Franken aller Finalisten kann nicht repräsentativ sein für eine Industrie, die auch Volumen verkaufen muss, um weiterhin existieren zu können.
Wie schätzen Sie das Potenzial ein, dass Nicht-Schweizer den Schweizer Herstellern Marktanteile streitig machen werden?
Wir halten über 95 Prozent Marktanteil ab dem oberen mittleren Preissegment. Das soll aber nicht heissen, dass es ausländische Marken nie schaffen werden, in dieser Hierarchie aufzusteigen. Aber ohne jegliche Arroganz und mit der Ausnahme von Grand Seiko aus Japan, die einen Umsatz von rund 250 Millionen Franken schreibt, gibt es fast keine Konkurrenz für die Schweizer Uhrenindustrie im Luxussegment, allenfalls noch Bremont oder Christopher Ward aus England, Sinn, Nomos und Moritz Grossmann aus Deutschland. Ausser Grand Seiko und Christopher Ward schafft es keine ausländische Marke unter die Top 50 von Morgan Stanley.