Oliver Müller, es holpert wirtschaftlich und politisch gerade ordentlich. Wie geht es der Uhrenbranche?
Gelinde ausgedrückt und übers Ganze gesehen, nicht gut. Das Volumen der verkauften Uhren wird dieses Jahr massgeblich abnehmen – die Exportstatistiken per Ende Juni zeigen schon ein Minus von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aber die Situation ist je nach Marke und Markt stark verschieden.
Das heisst?
Die starken Marken, und das ist nicht nur eine Frage des Umsatzes, sind geografisch gut diversifiziert und haben eine langfristige Strategie. Gewisse Marken, die eine sogenannte Pricing Power haben, werden das Minus im Volumen über Preiserhöhungen mehr als wettmachen. Und starke Nischenplayer wie H. Moser & Cie. und F.P. Journe surfen auch weiterhin auf einer Erfolgswelle, die zwar an Intensität verloren hat, aber immer noch genügt für ein gesundes Wachstum.
Wer sind die «gewissen Marken»?
Dazu gehören einmal alle Hersteller von Ultraluxusuhren mit einem Preisschild ab 40’000 Franken. Die werden von der Krise kaum tangiert und wachsen immer noch gewaltig, vor allem wertmässig. Volumenmässig machen sie ja nur gut ein Prozent der gesamten Schweizer Uhrenindustrie aus. Pricing Power, um ein Minus in ein Plus zu verwandeln, haben auch Platzhirsche wie Rolex, Audemars Piguet oder Patek Philippe. Aber auch diese Marken müssen aufpassen, dass sie den Bogen der dauernden Preiserhöhungen nicht überspannen. Einen eher schweren Stand haben in der aktuellen Situation Hersteller von Zeitmessern in der mittleren Preisklasse zwischen 2000 und 7000 Franken. Dazu gehören namentlich etwa Breitling, TAG Heuer, Tudor und Omega.
Und was läuft hinter den Kulissen?
Gelinde ausgedrückt ein Trauerspiel: Kurzarbeit ist in den Zulieferbetrieben weit verbreitet, und weil keiner weiss, wie der Auftragsbestand in wenigen Wochen oder Monaten aussehen wird, herrscht bezüglich der nahen Zukunft Unsicherheit, was zusätzlich auf Stimmung und Moral schlägt.
Sind Sie überrascht, wie sich die Dinge in den letzten Monaten entwickelt haben?
Eine Überraschung kann es nur sein für diejenigen, die daran glauben, dass die Leute trotz geopolitischer Unsicherheit, schlechten ökonomischen Parametern und steigenden Preisen durch Inflation weiter konsumieren, als wenn nichts wäre. Drei aufeinanderfolgende Rekordjahre post Covid haben die Erwartungen ins Masslose getrieben. Ich möchte betonen, dass wir es hier nicht mit einer zerplatzten Blase zu tun haben, sondern nur mit der Rückkehr zur Normalität, die zugegebenermassen weniger prickelnd ist als die vergangene Champagnerparty.
Eine Rückkehr zur Normalität prognostizieren Sie an dieser Stelle seit Anfang Jahr. Und wie geht es dann weiter?
Auf die lange Frist darf man eher optimistisch gestimmt sein. Es gibt noch ein grosses Wachstumspotenzial für die Industrie, falls sie es schafft, weniger zyklisch zu agieren, und in der nächsten Wachstumsphase nicht wieder masslos Uhren in die Märkte schiebt. Und das ist die grosse Herausforderung: In unserer Branche ist die Time-to-Market wegen der vielgliedrigen Liefer- und Wertschöpfungsketten viel länger und vor allem träger als in den meisten anderen Industrien. Heisst: Man kann nicht einfach mal schnell Gas geben und bei Bedarf rasch abbremsen. Wie bei einem grossen Frachter braucht es Zeit, um in Fahrt zu kommen, und Zeit, um das Tempo zu drosseln.
Anfang Jahr prognostizierten Sie für die Branche ein Minus von fünf Prozent. Bleiben Sie dabei?
Ja, es gibt Hoffnung: Per Ende Juni waren wir bei den Exporten wertmässig bei einem Minus von 3,3 Prozent. Wenn sich die Situation nicht noch weiter verschlechtert, wird sich die Zahl bei etwa minus fünf Prozent einpendeln. Aber man darf nicht vergessen, dass dieser Wert ein Durchschnitt ist, der von ganz wenigen gut gehenden grossen Marken überproportional nach oben gedrückt wird. Es gibt Marken, die in diesem Jahr einen Rückgang von 20 bis 30 Prozent zu verkraften haben werden.
Das wird schwer zu verkraften sein. Steht eine Konsolidierungsphase an?
Es gibt grundsätzlich nur noch wenige interessante potenzielle Akquisitionen in der Uhrenindustrie, weil die grossen Marken und Gruppen in den letzten 20 Jahren ihre Produktion sehr stark vertikalisiert haben. Sie verfügen über das nötige Know-how entweder dank Aufkäufen oder weil sie interne Produktionskapazitäten aufgebaut haben. Eines der wenigen Dossiers, die für eine grössere Marke oder Gruppe Sinn macht, ist momentan der Verkauf der Vaucher-Gruppe durch die Familienstiftung Sandoz. Alle «Usual Suspects» sind denn auch daran interessiert. Das andere Thema sind Lieferanten, die ein ganz spezifisches Know-how besitzen und als Investition in Frage kämen.
Und wie schätzen Sie das Interesse dieser «Usual Suspects» an schwächelnden Marken ein?
Bei den Marken sind noch weniger Kaufobjekte auf dem Markt als bei den Zulieferern. Nicht dass es keine zum Kaufen gäbe, aber es sind wenige, die schon eine kritische Grösse erreicht haben oder die man skalieren könnte. Für Gruppen wie Richemont oder LVMH macht es wenig Sinn, eine Nischenmarke zu kaufen. Luxuskonzerne sind nicht gut darin, einen Umsatz von 20 auf 100 Millionen Franken zu steigern. Was sie beherrschen, ist die Wachstumsphase von 100 auf 500 Millionen Franken, und zwar dank Know-how im Marketing, effizienten Lieferketten – und vor allem, weil sie über die finanziellen Mittel verfügen, die für die Skalierung nötig sind.
Wo es Verlierer gibt, gibt es Gewinner. Wer sind diese im aktuellen Umfeld?
Einerseits Marken, die in ihrem Segment Stärken ausspielen können, wenn andere schwächeln. Tissot zum Beispiel ist im unteren mittleren Preissegment sehr gut unterwegs. Produktangebot, Preispositionierung und eine extrem starke Distribution begünstigen ihr Wachstum überproprotional, sodass in turbulenten Zeiten, wie wir sie gerade erleben, ein Marktanteilsgewinn durchaus möglich ist. Das gilt auch für Rolex und Patek Philippe, aber aus anderen Gründen: Das Schlagwort hier heisst Brand Equity. Gewissen Nischenplayern schliesslich spielt in die Karten, dass auch Menschen mit tiefen Taschen ihr Geld weniger leicht ausgeben. Oder anders ausgedrückt: Sie sind weiterhin gewillt zu kaufen, machen es aber differenzierter und schauen mehr auf den Werterhalt einer Uhr beziehungsweise einer Marke. Last but not least profitiert der Kunde im Luxussegment davon, dass die Wartelisten kürzer geworden sind …
… und die Preise sinken?
Nein, das wird ausser auf dem sekundären Markt, also pre-owned, oder auch im Graumarkt noch lange nicht der Fall sein. Und auch dort, wo bereits Preiskorrekturen stattgefunden haben, wie bei gewissen «Trophy-Uhren», sind die Prämien gegenüber den offiziellen Listenpreisen immer noch substanziell. Man darf hoffen, dass jetzt alle Luxusmarken begriffen haben, dass die Preiselastizität auch bei Luxusgütern nicht unendlich ist.
Wagen Sie eine Prognose, wie der Markt in drei oder fünf Jahren aussehen wird?
Künftig werden ganz wenige Marken, 15 bis 20, im Premium- und Luxussegment dominieren. Wenige Nischenplayer schaffen es, ihr Business auf eine vernünftige Grösse zu skalieren – konkret heisst das je nach Marktsegment zwischen 50 und 200 Millionen Franken Umsatz. Die Dynamik von Marken-Neulancierungen wird anhalten, denn der Markt bleibt attraktiv, aber die langfristige Überlebensrate wird extrem tief bleiben, mit einer oder zwei Marken von hundert, die mehr als ein Jahrzehnt überdauern.
Und wann erholt sich der Uhrenmarkt wieder?
Die Trendumkehr ist sicher nicht vor 2025 zu erwarten und wird nicht eine V-Form annehmen, sondern eher eine Stabilisierung – immer noch auf hohem Niveau – mit anschliessendem Wachstum ab 2026. Allgemein werden die Konjunkturzyklen kürzer, und man muss sich der «Normalität» solcher Achterbahnen anpassen und versuchen, sie zu managen.