«Wir haben nicht damit gerechnet, dass es eine solche Begeisterung geben würde.» Die Worte spricht François-Marie Neycensas, Marketing- und Digitaldirektor sowie Partner bei Reservoir. Und die Begeisterung, von der er berichtet, hat mit einer neuen Partnerschaft zu tun, welche die junge Pariser Marke jüngst eingegangen ist, eine Zusammenarbeit mit dem Verlag Dargaud, Besitzer eines Monuments der Comic-Geschichte: «Blake und Mortimer» des belgischen Autors Edgar P. Jacobs. Die öffentliche Ankündigung dafür erfolgte Mitte Juni. Für die erste Uhr gibt es eine Warteliste über sechs Monate.
Die Uhr präsentiert sich wie fast alle anderen Kreationen von Reservoir: Um eine springende Stunde ist ein Messinstrument aufgebaut, eine retrograde Minute als einziger Zeiger in der Zifferblattmitte. Die beiden Comic-Helden sind auf das Zifferblatt gedruckt, der Arm von Kapitän Francis Blake mit ausgestrecktem Zeigefinger fungiert als Zeiger. Wenn der Arm zwischen Minute 35 und 45 ausgestreckt ist, zeigt er zum Himmel, von wo Gefahr droht. Daher der Titel: «By Jove!».
Die Zusammenarbeit war ein Test – die Uhr wurde für diesen Anlass vereinfacht, die Anzeige der Gangreserve entfernt und der Preis unter 3000 Euro gedrückt. Der durchschnittliche Verkaufspreis liegt sonst eher bei 4000 Euro. Ergebnis: Der Test wurde mit Auszeichnung bestanden, jedenfalls wenn man der Geschäftsleitung glaubt.
Neues, breiteres Publikum
François-Marie Neycensas spricht von «allerlei positiven Auswirkungen», insbesondere von der Wahrnehmung der Marke durch ein neues, «breiteres Publikum»: Das Projekt erregte die Aufmerksamkeit der Medien auch ausserhalb der Uhrenbranche, die Botschaft wurde international verbreitet. Und die Fans von «Blake und Mortimer» – «meist 50-jährig oder älter» – kamen als Kunden zu den Kennern der Marke hinzu. «Das sind Sammler und Liebhaber auf der Suche nach einer erschwinglichen retrograden Anzeige und junge Leute, welche die Armaturenbrett-Anmutung am Handgelenk mögen.»
Das Feld ist thematisch also abgesteckt, die Aktion soll weiterentwickelt werden, so der Marketingleiter: Weitere Projekte mit Dargaud seien in Arbeit, und auch amerikanische Comics stünden auf dem Fahrplan.
Mehr noch: Mit der Comic-Verankerung schliesst sich Reservoir einem besonderen Universum der kreativen Uhrmacherei an. Stardesigner Gérald Genta hatte es in den 1980er Jahren mit seinen Mickey-Mouse-Uhren eröffnet, und einige andere Prestigehäuser folgten ihm. Der letzte grosse Coup kam von Audemars Piguet und Marvel mit der Royal Oak Concept Black Panther mit fliegendem Tourbillon. Fazit: Humor kann wirtschaftlich eine ernsthafte Sache sein. Die Referenz hin zu Gérald Genta ist bei der Reservoir übrigens umso deutlicher, als die Anzeige sehr genau derjenigen der damaligen Mickey-Mouse-Uhren entspricht: ein retrograder Minutenzeiger, dazu die Stundenanzeige digital im Fenster.
Noch besser: «Blake und Mortimer» bestätigten, dass die Marke «einen neuen Meilenstein erreicht» habe. François-Maris Neycensas: «Wir werden als glaubwürdiger Akteur für die Zusammenarbeit mit den grossen Marken wahrgenommen.» Die Wahrnehmung habe sich geändert, die Sichtbarkeit ebenfalls. Reservoir, bisher oft eher als eine Konzeptmarke gesehen, ist auf dem Uhrenmarkt als ernst zu nehmende und legitime Alternative aufgetreten. Manchmal sogar im Frontalwettbewerb «mit anderen, etablierten Marken».
Um die Botschaft der seriösen Uhrmacherei noch stärker zu unterstreichen, hat Reservoir eine diskrete, aber gewichtige Änderung eingeleitet: Seit März dieses Jahres verwendet die Marke das Basiskaliber La Joux-Perret G100 (Automatikwerk, 68 Stunden Gangreserve), welches das bisher verwendete ETA 2824 ersetzt. Das retrograde Modul und die springende Stunde – mit oder ohne zusätzlicher Gangreserven-Anzeige – werden nach wie vor von Télos hergestellt, einem Unternehmen in La Chaux-de-Fonds, seit der Gründung von Reservoir 2016 mit der Marke verbunden. Es sei noch angemerkt, dass Reservoir zwar französische Wurzeln mit Geist und Sitz in Paris hat, aber das Label Swiss Made trägt.
Von Anfang an hat sich das Führungsteam bemüht, sich ins Ökosystem der Schweizer Uhrenindustrie einzugliedern, angefangen mit der Präsenz an Fachmessen. Der Start erfolgte an der Baselworld im März 2017, Reservoir nahm dreimal daran teil und würde dies auch weiterhin tun, wenn es möglich wäre: «Wir sind enttäuscht, dass sie nicht mehr stattfindet. Eine internationale Messe, die sich auch mit Start-ups befasst, wäre wichtig. Reservoir hat sich mit Basel weiterentwickelt.» Letztes Jahr nahm die Marke in Genf an der Messe «Time to Watches», teil, ausserdem war sie vertreten an der Uhrenmesse «SIAR» in Mexiko, an «The Couture Show» in Las Vegas, an der «WatchTime New York» und an der «WatchPro» in London. Sie nahm auch an der Auktion Only Watch 2021 teil und wurde drei Jahre in Folge für den Grand Prix d’Horlogerie de Genève selektioniert.
Ähnliches gilt für den Vertrieb: «Wir sind keine hundertprozentig digital verkaufte Marke.» Dennoch ist der Onlineverkauf sehr präsent, entweder direkt über die hauseigene Plattform, die in rund 50 Ländern zugänglich ist, oder über externe Plattformen. Der Anteil der Onlineverkäufe wird nicht näher erläutert, ausser dass er über dem branchenüblichen Verhältnis von 10 bis 15 Prozent liege. Ansonsten stützt sich die Marke auf rund 70 Verkaufsstellen in etwa 20 Ländern, darunter Frankreich, Japan, die USA, der Mittlere Osten etc.
Es war auch der Einzelhandel, der das neue Projekt ins Rollen brachte: Erste Verkaufsstelle waren die Galeries Lafayette in Paris: «Ihr seid nicht bekannt, ihr werdet in den ersten sechs Monaten nichts verkaufen, macht euch deswegen keine Sorgen», habe man der Marke zunächst beschieden. Doch innert dreier Monate war das Lager verkauft. «Am Anfang sagte man uns, dass wir es schwer haben würden, dass die retrograde Anzeige zu speziell sei. In Wirklichkeit war unser Vorschlag ein frischer Wind, zumal wir diese Komplikation zu einem akzeptablen Preis anbieten wollten.» Was übrigens nicht einfach gewesen sei.
Wie ein UFO
Das Risiko, in der Schublade der Konzeptmarken stecken zu bleiben, blieb jedoch bestehen: «Am Anfang wurden wir wie ein UFO wahrgenommen. Das ist das Risiko aller jungen Projekte in der Uhrenbranche.» Die grosse Schwierigkeit bestehe darin, sich langfristig in der Landschaft zu etablieren.
Dass dies gelungen ist, verdankt Reservoir nicht nur «Blake und Mortimer», auch Covid ist nicht ganz unschuldig daran – ein echter Stresstest. 70 Verkaufsstellen wurden auf einen Schlag geschlossen, einige mussten Konkurs anmelden, die Liquidität stand unter Druck. «Dass wir das überlebten, wurde als Beweis für die Solidität unserer Grundlagen wahrgenommen. Wir sind zwar noch immer im Vorzimmer der grossen Marken, aber wir haben die Hinterbänke verlassen.» Was kein Kinderspiel gewesen sei: Rückschläge und Lieferschwierigkeiten verschlangen Energie für das etwa zehnköpfige Team in Paris, auch die Wiederaufnahme von Entwicklungen und Vertriebsprojekten. Aktuell wollte man China als Markt eröffnen, das Projekt liegt aber einstweilen auf Eis.
Die Fundamentaldaten haben sich also als solid erwiesen. Angefangen beim Quartett der Teilhaber: François Moreau, Gründer, Leiter und künstlerischer Direktor der Marke (ehemals HSBC-Bank), François Nakkachdji, kaufmännischer Direktor (ehemals Rolex Asien), François-Marie Neycensas, Direktor für Marketing und digitale Medien (ehemals Nestlé), und Benjamin Boursault, kaufmännischer Direktor für Europa (ehemals Omega und vorher FRED Paris). Die Marke stützt sich weiterhin auf ein Kollegium von Privatinvestoren, etwa hundert, die bereits drei Kapitalerhöhungen durchgeführt haben. Der Rest wird nicht bekannt gegeben, und auf die Frage nach der Rentabilität des Unternehmens antwortet der Marketingdirektor eher kurz angebunden: «Es gibt uns.»
Wichtigstes Merkmal der Uhren: Seit 2017 wird die retrograde Anzeige mit einem Zeiger im Stil eines technischen Zählers in allen grossen klassischen Uhrentypen eingesetzt und für alle Themen: Luft, Erde, Meer. Das Ganze wurde durch Kooperationen in allerlei Themenbereichen verstärkt: In der Seefahrt (Maxime Sorel, Vendée Globe), für Tauchen und Schutz der Ozeane (Greg Lecœur, Operation Malediven), bei Autorennen (IDEC-Sport, 24 Stunden von Le Mans), im Kunsthandwerk (Atelier M. Marceau, Federmacher). Und jetzt mit Comics.
Auch die neuste Kreation ist nicht zu übersehen: das Modell Reservoir Sonomaster das eine ungewöhnliche Verbindung zwischen Klang und Zeitmessung darstellt – mit Anzeigen, die von Vintage-Hi-Fi-Geräten inspiriert sind. Und sogar noch etwas Neues bietet: einen Chronographen mit retrograder Anzeige. Die Uhr verspricht auch einen Durchbruch ins höhere Preissegment von knapp 6000 Euro.