Herr Müller, wie geht es dem Uhrenland Schweiz?

Leider nicht so gut, und man kann das unter anderem an der Nervosität bei den zwei Haupt-Dachverbänden der schweizerischen Uhrenindustrie, der Convention Patronale de l’Industrie Horlogère und dem Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie FH, sehen. Beide Verbände haben vor zwei Tagen ein Presse-Communiqué publiziert, in dem sie an den Staat appellieren, damit er günstigere Rahmenkonditionen kreiert. Was mich aber noch mehr erstaunt hat, ist der Ruf nach mehr Interventionismus der SNB, als ob diese nach Gutdünken die Wechselkurse gegenüber dem Schweizer Franken festlegen könnte. Das ist ungefähr so, wie wenn man den Weihnachtsmann um schön beschneite Skipisten für Weihnachten bemüht. Ich will die Initiative nicht schlechtreden, und für einmal wird die FH proaktiv, was sonst nicht gerade ihre Stärke ist. Wahrscheinlich ist sie dieses Mal aktiv geworden unter dem Druck von gewissen Mitgliedern. 

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Was sagen Sie zu den aktuellen Exportzahlen?

Eine erfreuliche und unerwartete Nachricht, die man aber im Detail analysieren muss. Und da sieht man, dass 98 Prozent des Wachstums in Franken von 7,7 Prozent des gesamten Volumens im Hochpreissegment kommen und nur weniger als 2 Prozent vom Einstiegspreissegment, und zwar von Tissot. Aber das hat wahrscheinlich mehr mit Neueröffnungen in China zu tun – also Sell-in und nicht Abverkäufe an Endkunden. Es ist also kein organisches Wachstum.

Gutes Stichwort: Sell-in, Sell-out, Graumarkt sind derzeit viel benutzte Worthülsen. Was bedeuten sie konkret? 

Graumarkt ist alles, was nicht über offizielle Kanäle verkauft wird. Das kann online wie bei gewissen Marktplattformen, etwa Chrono24, sein oder offline, wo man direkt über die Hintertür an Kunden verkauft, die bereit sind, eine Prämie für den «fast track» zu bezahlen. Der Graumarkt dient als Sicherheitsventil für übersättigte Märkte, bringt aber den Nachteil, dass in gewissen Fällen auch erhebliche Preisnachlässe gewährt werden. Das ist wie die Luxusparfums beim Discounter neben der Kasse oder die On-Sneakers bei Otto’s – das kann tödlich sein für eine Luxusmarke. Sell-in ist der Abverkauf an den Grossisten oder den Detaillisten. Wenn die Uhr dann am Handgelenk des Endkunden angekommen ist, spricht man von Sell-out. Sie ist dann wirklich verkauft und nicht von A nach B verschoben, auch wenn diese Transaktion bereits Umsatz generiert. Ich wage zu behaupten, dass die aktuellen Zahlen der Uhrenexporte ab der Schweiz noch lange nicht die ganze Geschichte erzählen. Wir sind per Ende August nur –1,2 Prozent unter dem kumulierten Vorjahresresultat … 

… dank den hochpreisigen Luxusuhren?

Ja. Und das ist die sehr schlechte Nachricht. Wir haben im August wieder massiv an Volumen verloren. Es wurden 125’000 Uhren weniger exportiert, und kumuliert seit Anfang Jahr sind wir bei einem Minus von fast einer Million weniger verkauften Uhren. 

Wie geht das weiter?

Ich erwarte, dass wir bis Ende Jahr bei etwa 15,5 Millionen exportierten Uhren liegen werden, was knapp weniger sind als 2021. Und wir sind nicht mehr sehr weit vom historischen Tief von 2020 mit Covid entfernt, wo wir ein Volumen von nicht mal 14 Millionen Uhren geschafft haben, übrigens so wenig wie während des Zweiten Weltkriegs. Wenn Finanzanalysten nun sagen, das sei nicht so schlimm, weil die Uhrenindustrie zu einer Nischenindustrie geworden sei, ist das naiv. Die Konsequenzen für die Lieferanten sind aber dramatisch. Zwar erhalten sie flankierende Massnahmen in Form von Kurzarbeitsentschädigungen vom Staat, aber sie haben wenig Aussicht auf eine rosige Zukunft, zumindest in den nächsten ein bis zwei Jahren. 

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Düster …

Nicht alles. Die USA etwa sind weiterhin auf Wachstumskurs trotz einer negativen Wechselkurssituation zulasten des Schweizer Frankens. Und andere Märkte in Europa wachsen auch, vor allem dank dem wieder florierenden Einkaufstourismus. Und in Japan schliesslich profitiert die Branche von einem schwächelnden Yen, der unter anderem chinesische Luxus-Shoppers anzieht.

Sind Sie von all dem überrascht? 

Nein, denn wie gesagt kommt das Wachstum überwiegend vom Hochpreissegment, das von den Vorteilen eines Nischenmarktes profitiert. Unter anderem von einer Preiselastizität, die man nur bei Luxusgütern kennt. Aber ich erwarte nicht, dass wir eine Trendwende sehen, und sogar die FH schreibt in ihrem Kommentar zu den August-Exportzahlen: «Die Unternehmen der Branche beklagen die mangelnde Visibilität auf mittlere Sicht, was sie dazu veranlasst, vorsichtiger in die Zukunft zu blicken oder in einigen Fällen sogar den Gürtel enger zu schnallen.»

Was werden die Folgen sein?

Der dramatische Einbruch der Nachfrage auf gewissen Märkten hat schon voll durchgeschlagen bei den Lieferanten, was sozusagen als Abfederung für gewisse Marken dient. Tausende von Leuten in der Uhrenindustrie arbeiten schon seit Monaten mit reduziertem Einsatz. Irgendwann – und ich hoffe, dass dieses Szenario nicht eintrifft – werden die ersten Firmen pleitegehen. Und das nächste Glied in der Wertschöpfungskette sind die Marken, und da wird die natürliche Selektion unerbittlich sein.

Womit rechnen Sie für die nächsten zwölf Monate?

Wir müssen jetzt sehr sorgsam sein mit unserer Industrie. Die Kurzarbeitsentschädigung ist ein sehr gutes Mittel, um eine Durststrecke zu überstehen, und es ist bemerkenswert, dass der Bund und die Kantone schon sehr schnell reagiert und die Frist der Kurzarbeitsentschädigungen auf 18 Monate hochgeschraubt haben. Und eins will ich noch anfügen: Entgegen dem, was Bloomberg kürzlich geschrieben hat, hängt die Schweizer Uhrenindustrie nicht am Tropf des Staates, denn die Mittel zur Finanzierung der Kurzarbeitsentschädigungen werden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermassen finanziert und stammen nicht aus einer Wundertüte!

Sie haben schon manche Krise erlebt. Bei welchem Schweregrad verorten Sie die Aktualität? 

Wir haben momentan eine komplizierte Situation, weil negative konjunkturelle Faktoren sich mit strukturellen Problemen addieren. Wenn alles gut geht und alle meinen, die Bäume würden bis zum Himmel wachsen, dann ist der Hang zu weniger Vorsicht natürlich weitverbreitet, und dann werden Märkte mit Produkten «überschwemmt», die dann zu Ladenhütern werden. Nach fast drei Jahrzehnten in dieser Industrie würde ich diese Krise als schlimmer einschätzen als diejenige von 2009, wo die Märkte zwar 22 Prozent eingebüsst haben. Aber dieses Mal werden die Schäden längerfristig und konsequenter ausfallen, vor allem bei den Lieferanten. Unsere Uhrenindustrie ist zyklischer als alle anderen Luxussegmente, aber dieses Mal schlägt das Pendel extrem aus seiner Bahn.