Antonio Calce, seit bald drei Jahren Chef bei Greubel Forsey, überschlägt sich schier, wenn es um das Geschäftsjahr 2022 geht: «Aussergewöhnlich!», «phänomenal!». Das Jahr werde in die Annalen eingehen. Denn die Marke habe ein Jahr der Beschleunigung und der Transformation hinter sich. Und zwar auf allen Ebenen.

Zunächst aber ein paar Stichworte zum Geschäftsgang und zur jüngsten Entwicklung der Marke:

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Top Line: Fast 200 Uhren wurden 2022 verkauft – derweil das Atelier seit seiner Gründung im Jahr 2004 zuvor nie die Grenze von 100 Stück pro Jahr durchbrochen hatte.

Aktionäre: Die Richemont-Gruppe hielt seit 2006 20 Prozent des Aktienkapitals, welche im März 2022 zurückgekauft wurden. Greubel Forsey hat heute drei Aktionäre: Robert Greubel, der die Mehrheit hält, Stephen Forsey und Antonio Calce.

Investitionen: Sechs Millionen Franken wurden in den Maschinenpark und ein Projekt zur Erweiterung des derzeitigen Gebäudes gesteckt, «um die Fläche für Produktion, Mechanik, Endbearbeitung und Handarbeit zu verdreifachen».

Portrait von Antonio Calce

Antonio Calce, Chef von Greubel Forsey, freut sich über das Geschäftsjahr 2022.

Quelle: ZVG

Personal: Etwa 40 Mitarbeiter wurden eingestellt. Die meisten davon in den Bereichen Produktion, Mechanik, Endfertigung. Dazu wurde die Struktur bereinigt und das Organigramm übersichtlicher gestaltet. Ein Wendepunkt nach der Umstrukturierung im Jahr 2020, welcher ein Dutzend von 100 Stellen zum Opfer gefallen waren. Ende 2022 war das Unternehmen wieder auf fast 130 Mitarbeiter angewachsen. Die Auswirkungen seien über das Pekuniäre hinausgegangen, betont Antonio Calce: «Das Unternehmen hat sich enorm weiterentwickelt, die Stimmung ist unglaublich gut.» Man habe einen Schub an «Wohlwollen, Kreativität, Kompetenz» erlebt und könne deshalb eine vollständige Flexibilisierung der Arbeit in Betracht ziehen.

Operative Leitung: Die Rollen wurden geklärt, die beiden Gründungsaktionäre Robert Greubel und Stephen Forsey haben sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen. Forsey behält eine Funktion als technischer Experte, Greubel ist Vorsitzender des Verwaltungsrats – und Mehrheitsaktionär. Antonio Calce ist geschäftsführender Vorsitzender und Mitglied des Vorstands – und ebenfalls Aktionär.

Produktmix: Die Marke Greubel Forsey hat einen strategischen Meilenstein erreicht, indem sie ihr Angebot öffnete und ihr Angebot auch unterhalb der 200’000-Franken-Schwelle aufzubauen begann. Das ist ein wichtiger Schritt für das Unternehmen, das sich bisher auf das Segment 500’000 bis 1’000’000 Franken konzentrierte.

Kundschaft: Als direkte Folge der Öffnung in der Preispositionierung hat sich auch das Kundenprofil erweitert. Einerseits in Bezug auf das Alter, nämlich von der Klasse der 50- bis 70-jährigen zu den auch unter 30-jährigen Kunden. Anderseits «von reinen Sammlern hin zu Kennern».

Das aussergewöhnliche Geschäftsjahr 2022 ermöglichte es, das bisher übliche Von-der-Hand-in-den-Mund-Agieren zu überwinden und die Zukunft mit einer gewissen Zuverlässigkeit zu planen. Ein sogenannter Masterplan 2031 rechnet mit einem schrittweisen Anstieg bis zur nächsten Stufe, die auf eine Produktion von «450, maximal 500 Uhren pro Jahr» festgelegt ist. Eine erste Etappe wurde mit 200 produzierten und verkauften Stücken im Jahr 2022 erreicht, als nächsten Schritt will man dieses Jahr auf 300 Uhren kommen.

Doch warum beschränkt man sich auf ein Maximum von 500 Uhren? Weil es vernünftig sei, meint Antonio Calce. Die Zahl liege «weit unter der aktuellen Nachfrage», Greubel Forsey befinde sich im Epizentrum des Momentums, von dem die unabhängigen Uhrmacher derzeit profitieren.

Balancier Convexe S2, Greubel Forsey

Die Balancier Convexe S2 von Greubel Forsey.

Quelle: ZVG

Umsatzwachstum kann irgendwann kein Ziel mehr sein

Die Volumenobergrenze habe indes auch eine strategische Dimension: «Irgendwann kann es nicht mehr das Ziel sein, den Umsatz zu steigern.» Um bei Spitzenleistungen zu bleiben, könne man nicht unbegrenzt an Wachstum denken: «So wie die Natur grossen Weinen in Bezug auf das Volumen Grenzen setzt, so kennen auch wir begrenzende Faktoren. Von den verfügbaren Talenten und der Machbarkeit der Massnahmen her.»

Was Calce in einer Art Menü formuliert, ist der eigentliche Masterplan, er umfasst alles, was zu tun ist, von den grossen Massnahmen bis zu den kleinsten Details.

Auf der Seite der grossen Massnahmen steht vorab ein imposantes Erweiterungsprojekt östlich und nördlich der derzeitigen Gebäude. Die Baugenehmigung wurde erteilt, der Baubeginn ist für Ende des Jahres geplant. Am anderen Ende der Kette wird auch der Vertrieb umstrukturiert. Das Distributionsnetz wurde bereits von rund 50 Verkaufsstellen auf etwa 30 reduziert. Ende 2023 sollen es noch etwa 20 sein.

Und längerfristig, so der Plan, wird der gesamte Verkauf auf rund 15 Flagshipstores beruhen, etwa in Mexiko-City, Dubai und Tokio, immer mit Partnern: «Wir haben intern so viel zu tun, dass wir den Einzelhandel nie selbst managen werden», sagt Calce. Die Einführung eines CPO-Programms (Certified Pre-Owned) ist für die nächste Zeit geplant.

Diese Neugestaltung des Verkaufsnetzes widerspiegelt sich in der Entwicklung des Produktangebots: Mittelfristig sollen fast 60 Prozent des Umsatzes im Segment von 150’000 bis 250’000 Franken erzielt werden. Ein Etappenziel, betont Antonio Calce: «Wir denken bereits an eine Untergrenze von 120’000.» Parallel dazu soll die Präsenz in den Verkaufsstellen von aktuell einigen wenigen Stück pro Jahr auf etwa 20 erhöht werden.

Kern der Strategie bleibe das Produkt, mit einem Angebot, das auf zwei Achsen verteilt ist: Die erfinderischen «ultraanspruchsvollen Stücke», auf denen Greubel Forsey den eigenen Ruf aufgebaut hat, bleiben im Zentrum der Forschung und Entwicklung. Es ist sogar ein Label namens «Museumsqualität» geplant, ein erstes Opus dafür wird derzeit entwickelt. Das Label soll sich auf einen neuen Ansatz in den einzelnen Bereichen stützen, durch die Schaffung einer Abteilung «Forschung und Entwicklung Dekoration» zum Beispiel. Deren Funktion werde es sein, «die Grundkomponenten und ihre Fertigstellung neu zu überdenken». Etwa mit gewölbten Ankerpaletten oder einer Anglierung mit variablen Winkeln, um «die Grenzen der Geometrie der Komponenten zu überschreiten».

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Gross in der Nische, fit für die Zukunft

Womit wir im Kern der Strategie und der aktuellen Entwicklungen angelangt sind, dem eigentlichen Grund für die Einstellung von Antonio Calce durch Robert Greubel im Sommer 2020: Es geht darum, das Bestehen von Greubel Forsey langfristig zu sichern. Der Begriff mag etwas kurz greifen für ein Unternehmen, das 2004 gegründet wurde, sich einen guten Ruf auf den Märkten erarbeitet hat und von der Branche mehrfach gefeiert wurde: Sieben Mal wurde es beim Grand Prix d’Horlogerie de Genève ausgezeichnet, zwei Mal mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Zeiger. Es gab auch einen Prix Gaïa 2009 und einen ersten Preis beim Concours international de chronométrie 2011. Doch die Realität ist immer prosaischer, als es Ehrungen sind. Greubel Forsey befand sich in einer schwierigen Lage und stand vor einer Herkulesaufgabe: «Es galt, das Geschäftsmodell weiterzuentwickeln, um eine Grösse zu erreichen, welche die Zukunft sichert.»

Die Marke, die auf immaterielle Werten wie Erfindungsreichtum und extremer Qualität beruht, musste gleichzeitig «ihrem Besitzstand treu bleiben». In diesem Zusammenhang lernte Robert Greubel Antonio Calce kennen. Calce war damals 54 Jahre alt, seit mehreren Jahrzehnten in der Uhrenbranche tätig und hatte zwei grosse Führungspositionen hinter sich (bei Corum und Girard-Perregaux). Analyse der beiden Männer: «Die Stärke von Greubel Forsey sind die Kreativität und das Know-how. Die Schwäche ist die Organisation. Es braucht ein Managementteam, es braucht eine klare Geschäftsstrategie.»

Die Mission war mithin klar definiert: «Es geht darum, Greubel Forsey von einem erfinderischen Atelier mit zwei genialen Uhrmachern in eine richtige Uhrenmarke zu verwandeln.»

Robert Greubel und Antonio Calce sind davon überzeugt, dass Greubel Forsey eine Marke werden müsse. Und da gebe es eine Linie, die zwingend zu überschreiten sei: «Es ist nicht möglich, mit hundert Uhren pro Jahr eine Marke zu etablieren.» Selbst wenn diese Uhren einzigartig, komplex und mit unendlicher Sorgfalt gefertigt seien – bis hin zum letzten Schraubenkopf. Und selbst wenn sie in einem ultrahohen Preissegment positioniert seien und mitunter über eine Million Franken kosten.

Tourbillon 24 Secondes Architecture

Die Tourbillon 24 Secondes Architecture der Schweizer Uhrenmanufaktur.

Quelle: ZVG

Die Transformation müsse umfassend sein, und da gelte es, einen Angriffspunkt zu definieren. Eine erste rote Linie ist gezogen: «Qualität und Erfindungsreichtum sind nicht verhandelbar, es darf keine zwei Ebenen von Angeboten geben.» Daraus leiten sich zwei Optionen ab: «Entweder man bleibt in der Hyper-Nische, wendet sich nur an Sammler und baut die Struktur dementsprechend ab. Oder man entwickelt sich in Richtung einer neuen Kundschaft von Kennern.»

Für Greubel Forsey werden beide Optionen beibehalten. Einerseits entwirft und produziert das Haus weiterhin hochgradig erfinderische Stücke zu stratosphärischen Preisen in einem begrenzten Volumen. Andererseits wird die Positionierung mit einem «Kenner»-Segment geöffnet, das unter 250’000 Franken liegt – «ohne Kompromisse beim uhrmacherischen Inhalt».

Die emblematische Uhr für diese neue Positionierung hiess Balancier Convexe S2 und wurde 2022 auf den Markt gebracht, eine Kreation, die für 200’000 Franken angeboten wird. Sie übernimmt das 2020 mit der GMT Sport eingeführte konvexe Gehäuse, die dreidimensionale Architektur, die Chronometrie und die für Greubel Forsey typischen superausgeklügelten handgefertigten Endbearbeitungen. Die «gleiche Akribie wie für eine Grande Sonnerie oder ein Tourbillon», aber ohne die grossen Komplikationen, ein echter «Signatur»-Zeitmesser.

Gleichzeitig wurde die zweite strategische Achse implementiert: die Durchsetzung und Verkürzung des Lebenszyklus der Produkte. Ein entscheidendes Element, betont der Geschäftsführer, welches seiner Meinung nach auch einen Grossteil des Erfolgs im Jahr 2022 erklärt. Motto: «Exklusiver, seltener.» Der Ansatz ist an sich nicht neu, aber solche Überlegungen wurden in der Vergangenheit nicht unbedingt angestellt.

Keine Uhren für die Ewigkeit

«Jetzt ist es ganz klar», so Calce, «wir geben bei der Einführung des Stücks bekannt, wann wir die Produktion einstellen werden.» Die konvexe Unruh S2 beispielsweise wird 2026 auslaufen. Die Kaliber haben einen Lebenszyklus von höchstens fünf Jahren, und «je höher der Preis ist, desto begrenzter auch der Lebenszyklus», sowohl in Bezug auf die Anzahl der Exemplare als auch auf die Dauer.

Die Hand Made 1, die vollständig von Hand und ohne Computerunterstützung gefertigt wird, ist zum Beispiel auf zwei bis drei Exemplare pro Jahr begrenzt, das Tourbillon 24 Secondes Architecture auf elf – wie auch die zukünftige achte Erfindung, die noch in diesem Jahr vorgestellt werden soll.

Die Tourbillon 24 Secondes Architecture

Die Tourbillon 24 Secondes Architecture von Greubel Forsey.

Quelle: ZVG

Fünf Leitlinien

Vor einem Jahr nahm sich das Führungsteam die Zeit, die Ideen schwarz auf weiss festzuhalten und die Leitlinien zusammenzufassen. Daraus ergaben sich fünf Werte oder fünf Säulen. Hier sind sie:

Die Handarbeit steht an erster Stelle: handgefertigte Uhren, handgefertigte Endbearbeitungen. Die ganze Berufung von Greubel Forsey liegt in der Handarbeit, mit dem erklärten Willen, altes Savoir-faire wieder aufzubauen und die Linien der Uhrmacherkunst in all ihren technischen und ästhetischen Aspekten zu erweitern.

An zweiter Stelle steht die Architektur: Die Uhr wird nicht in zwei, sondern in drei Dimensionen gedacht, und ein Kaliber ist immer auf mehreren Ebenen aufgebaut. Bei den komplexesten Uhrwerken geht das bis zu fünf Ebenen.

Das dritte Schlüsselelement sind die Erfindung und die Innovation: Greubel Forsey hat dies zu ihrem Markenzeichen gemacht, mit einer Reihe von Meilensteinen, die als «Invention Pieces» bezeichnet werden.

Dann folgen die Begriffe Seltenheit und Exklusivität. Das widerspiegelt sich im Management des Lebenszyklus und der Quantität. Mit einer Kaskade von positiven Effekten in der Forschung und Entwicklung, der Produktion, dem Vertrieb und sogar auf dem Sekundärmarkt.

Fünfter Pfeiler: Qualität und Zuverlässigkeit. Eine Hauptlinie an sich, die sowohl die chronometrische Präzision als auch die Ergonomie umfasst. Beispiele dafür sind elf Sicherheitsmechanismen bei einer Sonnerie-Uhr oder ein unzerbrechlicher Ewiger Kalender.

Labor ohne Limiten

Das Verrückteste, so hätte Antonio Calce schliessen können, ist, dass diese Werte in strategische Achsen, kalte Zahlen, Ratios, Margen und Finanzlogik umgesetzt wurden – ohne Schaden an dem zu verursachen, wofür Greubel Forsey schon immer stand: für ein besonderes Universum und eine Art Labor, welches ständig versucht, seine eigenen Limiten zu überschreiten und auch die Grenzen der Mikromechanik in Frage zu stellen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei «Watch Around».