«Meine zweite Leidenschaft ist die Literatur – Agatha Christie!» Die ersten Worte von Patrick Ulm klingen ungewöhnlich, doch sie passen zweifellos zu ihm. Er hat zwar eine Uhrenmarke entwickelt, aber er kommt von anderswoher, aus der Vermögensverwaltung und dem Privatbankenwesen nämlich. Er hat Wurzeln in Deutschland, eine Wiege in Vevey und ein Leben in Zürich. Die Begegnung mit ihm findet im «Spiga» in Oerlikon statt, in einem Selbstbedienungsrestaurant also. Das ist zwar weit entfernt von der Luxuswelt, in die ihn seine Uhren führen, steht aber ganz im Einklang mit seiner Person. Seit fast fünf Jahren arbeitet er zwischen zwei Universen, zwischen Finanzwelt (Bank Hottinger) und der Uhrmacherei, mit dem Aufbau der Marke Charles Girardier.

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Die Geschichte verläuft wie ein Krimi. Ein Verbrechen gibt es darin allerdings nicht, nur einen Todesfall vor langer Zeit: Uhrmacher Charles Girardier, genannt der Ältere, verschied 1839 ohne Nachkommen eines natürlichen Todes.

charles girardier

Kapitel 1: Die erste Uhr von Charles Girardier.

Quelle: ZVG

Patrick Ulm hat ihn aufgespürt, als er der Spur seiner Lieblingsautorin Agatha Christie folgte, in ihrem Ferienhaus in Devon, England. In einem Raum befand sich ihre Sammlung von Taschenuhren. Darunter war eine mit einem verzierten und animierten Zifferblatt sowie einer Signatur: Charles Girardier. Agatha, Hercule, Charles, die Wege kreuzten sich – und Patrick Ulm sah darin ein Zeichen, seinen «Erweckungsruf», eine Art «roten Teppich», der sich vor ihm ausrollte. Er fühlte sich berufen, liess die Emotionen sprechen, mit der Intuition einer Bestimmung, getragen vom Gefühl, seinen eigenen Roman zu leben.

Der zugängliche Name eines Grossen: Charles Girardier

Er stellte Nachforschungen an und entdeckte weitere Charles-Girardier-Exponate in anderen Museen, in London, Paris und Genf. Er fand sie ebenfalls in den Verkaufsräumen von Auktionshäusern, die er auch schon als Vermögensverwalter für seine Kundschaft aufgesucht hatte. Diese Uhren waren zugänglich, und er kaufte einige davon. Auch der Name war zugänglich, frei von Rechten. Ulm machte daraus seine Marke, meldete sie 2018 an, für die Schweiz und international.

patrick ulm
Foto: ZVG
Foto: ZVG

Erste Kollektion, erstes Team

Patrick Ulm hatte für diese erste Runde einen Partner, einen Bekannten, der im Kanton Schwyz ein Unternehmen für schöne Innenarchitektur betreibt. Dazu liess er sich von einem Cousin beraten, der im Uhrenbereich als Ausbilder tätig ist. Er klopfte an die Tür der Manufaktur Vaucher, die zu seinem Glück gerade ihre Private-Label-Abteilung eröffnet hatte, und entschied sich für ein Uhrwerk mit Tourbillon. «Es braucht uhrmacherischen Inhalt», hatte sein Cousin empfohlen, «man muss sich in der Haute Horlogerie positionieren.»

Das Team von Vaucher machte den Rest, entwarf und fertigte die Uhr vom Kaliber bis zur Schatulle. Dreimal zwölf Stück, jeweils mit einem Zifferblatt in Blau, Schwarz oder Weiss, fast 50’000 Franken teuer. Die kommerzielle Stunde der Wahrheit folgte in einer Schwyzer Boutique, es kamen Freunde und mögliche Kunden – doch niemand biss an. «Wir brauchen ein Branding», schlussfolgerte Ulm.

Zweite Kollektion, zweites Team

Was tun? «Einen Experten finden!» Patrick Ulm durchforstete das Internet, ein Name tauchte auf: Olivier Müller. Seine Vergangenheit bei Laurent Ferrier, seine Zusammenarbeit mit Morgan Stanley überzeugten, Ulm versuchte es. «Olivier Müller sagte mir, dass es länger und komplizierter würde als erwartet.» Die Geschichte habe einen guten Anfang, aber so würden sie nicht erfolgreich sein.

Ulm zögerte mit dem Gedanken, noch einmal von vorne anzufangen, aber Müller hatte die Argumente: «Er stellte seine Fähigkeit in Aussicht, mich auf ein gutes Niveau zu bringen, mich von der Masse abzuheben, mit einem Talking Piece, mit dem Grand Prix d’Horlogerie de Genève. Ich erklärte ihm, dass ich vor allem Coaching möchte. Er erklärte mir, dass ich, wenn ich mit ihm gehe, sein ganzes Team mitnehmen müsse.»

Dieses Team war Régence in Genf, die Gruppe von Georges Leger, die sich um alles kümmert, um Uhrwerk (Timeless), Zifferblatt (GVA) etc. Dazu gehörten ferner Olivier Müller in der Produkt- und Kommunikationsleitung sowie der Designer Barth Nussbaumer. Das Team bereitete eine Wettbewerbskönigin vor: geheimnisvolle Signatur (Monogramm auf beweglichen Scheiben), Tourbillon mit edelsteingefasstem Käfig, arabeskes Pompadour-Zifferblatt mit Goldflocken. Und bingo: Die Schöne gewann in Genf den Preis für Damenuhren beim GPHG.

Erster Gipfel, erstes Aber

Es war eine Damenuhr, und Patrick Ulm wollte sich nicht auf ein Genre festlegen lassen. Es würde also auch eine Herrenvariante geben. Um sie bekannt zu machen, wagte sich die Marke an die Only-Watch-Versteigerung. Die Auktion endete nur ein Haar über dem öffentlichen Preis, der Investor war beruhigt, 40 Exemplare wurden produziert, 20 Damen- und 20 Herrenmodelle. Auf 80’000 Franken lautete das Preisschild, die Hälfte davon ist bis heute verkauft. In Bezug auf den Vertrieb deckt DKSH Japan ab, Swiss Prestige ist für Hongkong zuständig.

Patrick ulm Uhr
Foto: ZVG
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Dritte Kollektion, drittes Team

Patrick Ulm hatte gelernt. Er nahm seinen Taschenrechner zur Hand und kam zum Schluss, dass es zu viele Leute in der Bilanz gab, zu viele Kosten, um seine Preispositionierung zu halten. Die Produktion blieb bei Régence, aber er schob Olivier Müller etwas beiseite, nahm selber mehr Platz ein, stellte eine Kommunikationsagentur und einen anderen Designer ein, Max Resnick. Die neue Linie mit dem Namen Magic 8 – er steht für eine Zifferblattanimation, die eine Acht bildet – wurde im Frühling 2022 am Salon Time to Watches in Genf vorgestellt. Fast 40’000 Franken kostet diese Uhr, 40 Stück wurden produziert, die Hälfte davon ist bis heute verkauft.

Vierte Kollektion, viertes Team

Das ist die Phase, die jetzt gerade läuft. Und dabei ist alles anders als zuvor, ausser Patrick Ulm. Dieses Kapitel wird mit einem neuen Designer eröffnet: Laurent Auberson. Er hätte fast am ersten Kapitel der Geschichte von Charles Girardier teilgenommen und ergriff jetzt die Initiative, sich zum vierten Kapitel einzuladen – zusammen mit Cyrano Devanthey, einem Uhrmacher-Konstrukteur, der bei Bumont und Oscillon tätig ist.

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Das eröffnet die Perspektive: noch mehr uhrmacherische Substanz, ein eigenes Kaliber, das Einrichten eines Ateliers, die Ausbildung eines Uhrmachers, das Verlassen von Genf und das Andocken an den Uhrmacher-Hub in Buchs AG, wo Bumont und Oscillon ansässig sind.

Die vierte Kollektion entstand auf diese Weise rund um das Kaliber, dessen sichtbarste Besonderheit eine grosse Gangreserve ist, die von einem Kegel animiert wird – «sehr taschenuhrartig». Das allgemeine Programm ist «uhrmacherischer und weniger verspielt» und entspreche eher der Nachfrage, erklärt Patrick Ulm. Der Name der Kollektion steht fest: Plénitude, was auf Deutsch Fülle heisst. Oder Pracht.

Jetzt lockt die Watches&Wonders

Der Fahrplan: Prototypen sollen Ende des Jahres parat sein, geplant ist eine Präsenz an der Uhrenmesse Watches & Wonders im nächsten Frühjahr. Jetzt müssen, um die ganze Pracht zu erreichen, nur noch neue Engel gefunden werden, Business Angels, Investor Angels, you name it.

Im «Spiga» trinkt Patrick Ulm seinen Espresso fertig, um dann zu Hause sein Gepäck für die bevorstehende Roadshow zu packen. Sie wird ihn tags darauf nach Paris führen und dann nach Mailand. Natürlich mit dem blauen Express.

 

Dieser Artikel erschien zuerst bei «Watch Around».