Der gute Rat an Uhrmacher Sylvain Pinaud in Sainte-Croix kam vom französischen Berufskollegen Luc Monnet: «Hör auf, dich im Kreis zu drehen», sagte dieser, «verlass die Industrie.» Und Sylvain Pinaud folgte dem Rat. Er verliess seinen weichen Sessel als Angestellter in der gehobenen Uhrenindustrie, um sich auf den harten Hocker der Selbstständigkeit zu setzen.
Sylvain Pinaud, der 1978 in Grenoble als Sohn eines Uhrmachers geboren wurde, machte diesen Schritt sehr bewusst, nach einer abwechslungsreichen Karriere: 1998 hatte er sein Diplom an der Uhrmacherschule in Morteau erlangt, dann vier Jahre bei Franck Muller gearbeitet, fünf Jahre bei Dominique Mouret, einem Restaurator für Pendeluhren in Sainte-Croix, und fünf Jahre bei Carl F. Bucherer als Prototypenhersteller.
In die Unabhängigkeit startete er mit dem Bau einer Uhr, eines Ein-Drücker-Chronographen, den er selber entwickelte und herstellte – auf seinen persönlichen Maschinen. Es sollte ein Meisterstück werden, das Pinaud mit einem klaren Ziel vor Augen entwickelte: Er wollte den Titel «Meilleur ouvrier de France» – bester Arbeiter Frankreichs – erlangen.
Das Werkstück war ihm ähnlich: ehrlich, solide, rational, ausgehend von einem Handwerk, welches er sicher beherrscht. Er erhielt die begehrte Kokarde und präsentierte seinen Chronographen an der Basler Messe 2018.
Doch der Chronograph war mehr als ein Meisterstück, er war ein Meilenstein auf dem Weg in die Selbstständigkeit, ein Schritt, der auch einen neuen Beruf in seinen Lebenslauf einfügte, das Design. «Bei der Herstellung dieses Chronographen habe ich das Zeichnen gelernt», sagt er. Und schon mit seinem ersten Stück fand er eine Art Signatur: Wenn ich ein Element der Uhr zeichne, denke ich darüber nach, wie ich es herstellen kann. Und ich habe mir angewöhnt, nur das zu zeichnen, was ich auch leicht herstellen kann.» Keine unnötigen Fantasien, volle Kurven, Kreisbögen, «alles ganz einfach».
Sylvain Pinaud macht sich 2018 selbstständig. Mit dem Herzen bei der Kreation, mit den Händen im harten Alltag. Drei Jahre lang lebte er von Zulieferungen. Ein Modus vivendi, den er in Kürze aufgeben wird, sobald die letzten externen Mandate abgeschlossen sind. Denn jetzt kann er sich auf die eigenen Arbeiten konzentrieren. Seit einem Jahr plant er diesen Übergang, seit einem Jahr ist er nicht mehr allein in seinem Atelier, in dem heute zwei Uhrmacher (ihn eingeschlossen), eine Angleurin und derzeit ein Praktikant arbeiten.
Zwischen der Messe in Basel 2018 und dem Herbst 2022 blieb Pinaud sehr diskret. Erst bei der diesjährigen Auswahl für den Grand Prix d’Horlogerie de Genève tauchte sein Name wieder auf, mit einer neuen Kreation in der Kategorie Herrenuhr. Nebenbei: Nicht er hat sich angemeldet, Kunden taten es für ihn. Sie haben gut daran getan, Pinaud ging mit dem Preis für die «Horological Revelation» nach Hause.
Der Name seiner zweiten Kreation ist unmissverständlich: Origine. Eine einfache Uhr für Stunden, Minuten und Sekunden. In Wirklichkeit allerdings ist sie nicht so einfach und eher ein Ausdruck von Wissen als eine Rückkehr zu den Wurzeln.
Die Konzeption begann mit der Ästhetik, mit dem Prinzip, die Stunden und die Minuten exzentrisch anzuzeigen. Dahinter steckte die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen dem versetzten Minuten-Zifferblatt und der kleinen Sekunde. Intuitiv ergab sich ein Proportionenverhältnis, darauf wurden die anderen Elemente ineinander verschachtelt. Alle Komponenten sind Originale. Die Hemmung wurde auf Mass entwickelt, wobei alle erdenkliche Sorgfalt auf die Chronometrie verwendet wurde: Unruh mit variablem Trägheitsmoment, Breguet-Spiralfeder etc. Auch das Räderwerk wurde für diese Uhr entwickelt, «sehr speziell, um die Sekunde dort zu platzieren, wo sie sich jetzt befindet».
Sobald die Technik stand, machte sich Sylvain Pinaud an die Architektur des Uhrwerks, wobei er «mit allen Höhen spielte». Etwa mit dem Sekundenzifferblatt, das neben demjenigen der Minuten liegt, aber von der Hauptbrücke abgehoben ist, auf die es einen schwebenden Schatten wirft. Das Gleiche gilt für die Rückseite der Platine, die an der Stelle der Unruh angebracht ist, so soll daran erinnert werden, dass sich das Regulierorgan vorne befindet.
Sylvain Pinaud hat einen Ausdruck, der seine Arbeitsweise beschreibt: «Keine Kompromisse.» Und das stehe vor allem für seinen Willen, das Beste aus all dem zu übernehmen, was er in der Praxis in den verschiedenen Positionen gelernt hat, die er bekleidet hat. Die Restaurierung – Pinaud arbeitete bei Dominique Mouret in Sainte-Croix – ist sehr präsent. Seine Uhr Origine weist zahlreiche Spuren davon auf, aber um sie zu entdecken, muss man sie mit dem Uhrmacher zurückverfolgen.
Er beginnt mit dem kleinsten Detail: der Art und Weise, wie die Minuten- (Punkte) die Sekundenmarkierung (Striche) genau auf der Höhe der fünften und der fünfundzwanzigsten Sekunde kreuzt. «Ich hatte ein Restaurierungsstück gesehen, bei dem sich alles perfekt kreuzte. Eine Taschenuhr, bei der das Zifferblatt nicht die gesamte Platine einnahm.»
Die Kompromisslosigkeit zeigt sich auch in der Wahl der Materialien. Die Hauptbrücken bestehen aus Neusilber, der typischen Legierung alter Taschenuhren. Leichte Zweifel habe es allerdings gegeben, räumt der Uhrmacher ein, der sich im letzten Moment entschied, das Neusilber durch Behandlung zu stabilisieren. Er befürchtete, sonst die Kundschaft mit der natürlichen Patina des Neusilbers, die mit der Zeit eintreten könne, abzuschrecken. Sylvain Pinaud musste bis zum Schluss zu seiner Entscheidung stehen: Ein Kunde hatte ihn ausdrücklich darum gebeten, die Brücken nicht zu behandeln.
Keine Kompromisse, das bedeutet auch, dass man sich auf die Raffinesse verlassen kann. Der Stundenzeiger zum Beispiel besteht aus drei Teilen, einem Rohr, einem Zeiger und einem Auge. Der Zeiger und das Auge werden separat gebläut, und zwar mit Hilfe einer Technik, die direkt von der Restaurierung von Pendeluhren stammt: Das Blau wird dabei nicht durch Anlassen in der Flamme, sondern in einem Bläuesalzbad erzeugt, einer Art festem «Vegetalin», das sich beim Erhitzen verflüssigt. «Das Erhitzen ist gleichmässiger», erklärt der Praktiker, «denn es befindet sich keine Luft zwischen dem Raum und der Wärmequelle.» Die Technik ist unumgänglich, wenn es darum geht, grosse Uhrzeiger zu bläuen, sie funktioniere indes auch perfekt bei kleinen Bauteilen.
Auch bei der Dekoration gibt es keine Kompromisse. Sylvain Pinaud, er wagt es zu sagen, ist der Genfer Streifen überdrüssig, also gibt es keine. Stattdessen hat er die Platine und die Brücken mehrfach sandgestrahlt, mit unterschiedlichen Körnungen, speziellen Anglierungen und Spiegelpolituren, um die «grafischen Qualitäten» der Oberflächen hervorzuheben und «die Kontrasteffekte zu verstärken».
Und schliesslich gab es keine Kompromisse bei den Fristen: «Ich lasse mir Zeit», sagt er. Für die Zeichnung: ein Jahr. Für den Prototyp: 18 Monate. Für die endgültige Version: nochmals 18 Monate. Erste Lieferung: Ende 2021. Zweite Lieferung: März 2022.
Um deutlich zu machen, dass er zu jeder seiner Entscheidungen steht, trägt die Origine dreimal seinen Namen: auf dem Zifferblatt, auf der Platine und auf dem Gehäuseboden. Und um die Botschaft zu unterstreichen, hat er den Namen mit zwei Bezeichnungen ergänzt, die ihm sehr am Herzen liegen: «Hand made» auf der Vorderseite und «Artisan horloger» auf der Rückseite.
Herausforderungen schrecken den Uhrmacher nicht, das Motorrad am Eingang belegt es. Es war nicht mehr fahrtüchtig, als er es kaufte, und er hatte damals auch keinen Führerschein. Aber er schwor sich, diesen an dem Tag zu machen, an dem er den Töff wieder zum Laufen gebracht habe. Und heute hat er Führerschein.
Im Atelier gibt es noch eine Sitzecke mit Gitarre und Verstärker, für Riff-Pausen zwischen den langen Arbeitssequenzen der Mikromechanik – der Rest ist pures Atelier.
Ein Tisch zum Beispiel ist der mechanischen Dekoration gewidmet, umgebaute Maschinen für den Sonnenschliff und das Perlieren kommen zum Einsatz. Und in Richtung Eingang befindet sich eine kleine Batterie von Drehbänken, die an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden können, zum Beispiel zum Schleifen und Polieren von Räderzähnen mit Buchsbaumschleifern. Auf einem anderen Tisch steht eine halbautomatische Strausak-Verzahnungsmaschine, ein tapferer Automat, der schnarrt und klappert wie ein altes mechanisches Klavier.
Dazu gibt es eine grosse Schaublin-Fräsmaschine und ein paar Maschinen mehr. «Es ist das Atelier meiner Träume», sagt Pinaud. «Ich sah mich schon immer Selbstständiger. Aber ich habe 20 Jahre gebraucht, um es zu schaffen.»
Noch ein hübsches Pièce de résistance ist eine kleine CNC-Fräse der Firma Kern aus den 1990er Jahren. Er hat sie von seinem letzten Arbeitgeber, Carl F. Bucherer, als dieser die Prototypenwerkstatt in Sainte-Croix schloss. «Es ist nicht die praktischste Maschine der Welt», erklärt er, «man kann nur ein Werkteil auf einmal einspannen, und es dauert einen ganzen Tag, um eine Platine herzustellen.» Er habe also bereits den Standort für eine zukünftige leistungsfähigere Maschine eingeplant, aber im Moment könne er sich mit seiner Kern arrangieren. Es sei schwierig, Bauteile extern zu beschaffen, fährt er weiter, extern müsse man für jede Komponente mindestens sechs Monate Vorlaufzeit einkalkulieren. Und ohnehin: Wahre Unabhängigkeit gebe es nicht ohne Autonomie. Ein Dogma ist das allerdings nicht, Gehäuse und Zifferblätter werden an Subunternehmer vergeben.
Mittelfristig möchte Sylvain Pinaud den Produktionsrhythmus auf zwölf Stück pro Jahr steigern. Die Nachfrage sei da: Anfang November reichte der Auftragsbestand für 22 Monate. Aber Pinaud will auch kompromisslos an seiner Linie festhalten. Will heissen, «eine kleine Werkstatt bleiben und uns die Möglichkeit geben, unter guten Bedingungen weiterzuproduzieren».
Dieser Artikel erschien zuerst bei «Watch around».