In dieser Geschichte geht es um einen Jahrhundertkalender, um eine technisch aufwendige Spielart des Ewigen Kalenders also. Vor allem aber geht es um eine Uhr, welche die Lebenserwartung ihres Besitzers anzeigt, einen personalisierten Lebenszeitindikator, der auf einer Gensequenzierung beruht. Mit anderen Worten: Es geht um den persönlichsten Kalender der Welt. Die Absicht dahinter: Der Zeit soll ein Wert verliehen werden, denn die Zeit laufe davon und lasse sich nicht einholen. Daher der von Seneca entlehnte Name für die Uhr: Tempus Fugit.

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Zwei Uhrmacher stehen hinter dem Projekt, dazu ein Experte aus dem Bereich der Biowissenschaften sowie der zukünftige Besitzer. Und es wurde nicht von einer Marke angeschoben, sondern von Inartis in Lausanne-Renens, einer Stiftung für Unternehmertum und Innovation. 
Getragen werden der Kosten für die Exklusivität vom künftigen Besitzer. Zunächst aber musste er einige seiner Zellen spenden. Sein Genom wird sequenziert, analysiert rund führt zum Festlegen seiner Lebenserwartung, die nach dem Stand der Wissenschaft geschätzt wird. Möglich macht das, so die Urheber, «ein evolutionärer Algorithmus, welcher das Ergebnis der bioinformatischen Analyse des Genoms mit den biologischen Markern von spezifischen persönlichen Daten abgleicht».

Der Uhrmacher programmiert die mechanische Lebensreserve in die Mechanik, sichtbar auf einer teilweise gebläuten peripheren Scheibe zu sehen, wobei Blau das Leben anzeigt. Dann schliesst er die Uhr, deren Gehäuse sich wie ein Tresor verriegeln lässt. Der Jahrhundertkalender – wir kommen noch ausführlicher darauf zurück – wird den Rest erledigen und das Kalendarium über die nächsten Jahrtausende am Laufen halten.
Überall auf den Kaliberkomponenten sind Inschriften zu sehen, lateinische Worte sowie Namen. Ein Namenschild nennt auch die Erfinder: Benoît Dubuis, Dominique Renaud, Julien Tixier. Die klassische Philosophie steht im Vordergrund, die drei griechischen Götter der Zeit lassen grüssen: Chronos, Aion, Kairos. Seneca, wie erwähnt, war der Pate für den Namen: Tempus Fugit. Gemeint, so Benoît Dubuis, sei die Zeit, welche flieht und «uns daran erinnert, dass wir eine positive Ungeduld kultivieren müssen». 

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Tatsächlich ist diese Uhr viel mehr als eine Uhr. Sie ist ein Unterfangen an sich, Treffpunkt mehrerer Welten, die zwar von jeher miteinander im Dialog stehen, jedoch nie offiziell zusammengekommen sind: «Es geht um die Konvergenz von Technologie und Biowissenschaften», erklärt Dubuis. Im Mittelpunkt stehe dabei der Mensch – nackt vor der Zeit.
Bisher konzentrierte sich die Uhrmacherei auf die Messung der sozialen Zeit. Mit der Genetik habe die Wissenschaft jedoch eine intimere Zeitlichkeit entdeckt, von der Genetik durch ein ganzes Inventar von Biomarkern ergänzt: Essgewohnheiten, Beruf, Wohnort, Klima usw. Sie beeinflussen statistisch das Wesen und seine Lebenserwartung. Tempus Fugit verbindet beides:

Das Stück zeigt die Uhrzeit an, den Tag, das Datum, das Jahr, das Jahrhundert. Und dazu die Lebenszeitreserve.
Mithin weiss der Besitzer, wie viel Zeit ihm theoretisch noch zu leben bleibt. Das mag unheimlich wirken, sei aber nicht morbide gemeint. Die Absicht sei im Gegenteil positiv, eine Ermutigung zum Handeln: «Wir wollen den Träger dazu anregen, seine Träume und Ambitionen zu verwirklichen, bevor es zu spät ist.» Also eher Eros als Thanatos, und diese Vorliebe für den Lebenstrieb sei im Herzen der Arbeit der Uhrmacher verankert.

Mit der Uhr ist ein neues Duo entstanden: Dominique Renaud (etwas über 60) und Julien Tixier (noch keine 30). Sie sind zwar ein paar Generationen voneinander entfernt, aber ihr Geist und ihr Talent berühren sich. 
Mit drei Ergebnissen: Erstens gab es bisher noch nie einen derart kompakten Jahrhundertkalender wie diesen. Ohnehin gab es seit 15 Jahren keinen mehr. Zweitens steht das Projekt für eine neue Technologie: die Biotech-Mechanik. Und drittens stellt es die Erfindung eines neuen Kalenders dar: eine Anzeige der Lebenszeit, die nur zählen soll, wenn man sie nutzt. Dazu kommen uhrentechnisch eine neuartige Architektur mit Federhaus in der Mitte, eine drehbare Hemmung, ein kronenloser Aufzug mit Zeiteinstellung von der Rückseite, wofür es einen Schlüssel gibt, der wie ein Bajonett im Armband versenkt ist.

Das Geheimnis wurde gut gehütet. Seit zwei Jahren liegt das Projekt auf der Werkbank und entwickelt sich in seinem eigenen Rhythmus. Gebaut von vier Händen, erdacht von mehreren Gehirnen, unter handwerklichen Bedingungen, die die Haute Horlogerie kaum noch kennt. Zwischen Dominique Renaud und Julien Tixier ist der Ideenaustausch so fein geflochten, dass die Urheberschaft der Handgriffe kein Thema mehr ist. Sie haben ihr Wissen zusammengelegt und den Rest dem Wetteifer überlassen, ohne die Arbeitsstunden zu zählen. Das Ergebnis war, dass der Zeitplan um fast eineinhalb Jahre überschritten wurde.
Dominique hat das Modul für den Jahrhundertkalender erfunden, klar, aber Julien hat einige Mechanismen präzisiert, etwa bei der Anzeige. Julien übersetzte Dominiques Ideen und brachte seine eigenen ein. Er baute die Uhr, zeichnete die Pläne – Dominique beherrscht die dafür nötigen Computerprogramme noch immer nicht – und fertigte die Komponenten an, wobei er das Œuvre ständig hinterfragte. Zwei Tage vor der Anmeldung zum Grand Prix d’Horlogerie in Genf stellte Julien die Uhr in der Nacht fertig, fuhr nach Paris, lieh sie kurz einem Fotografen aus, kehrte gleichentags ins Atelier zurück und baute sie wieder zusammen, um noch ein paar Feinheiten zu erledigen.

tempus fugit

Bis auf die Spirale, die Steine und die Mikroverzahnung des grossen Lebensreserve-Rades wurde alles im Vallée de Joux hergestellt. Die Modelle – und einige kleine Bauteile – stammen aus dem Atelier Ergastule, das Dominique Renaud sich im Chalet seiner Familie im Nachbardorf Le Brassus eingerichtet hat, wo seine Mutter wohnt

Quelle: PD

Alles wurde im Vallée de Joux hergestellt. Julien Tixier hat seine Werkstatt in Le Lieu, dort fehlt es an nichts: Drehbänke, Geräte, durchwegs konventionelle Maschinen aus einer anderen Zeit. Bis auf die Spirale, die Steine und die Mikroverzahnung des grossen Lebensreserve-Rades wurde alles hier hergestellt. Die Modelle – und einige kleine Bauteile – stammen aus dem Atelier Ergastule, das Dominique Renaud sich im Chalet seiner Familie im Nachbardorf Le Brassus eingerichtet hat, wo seine Mutter wohnt.

Begonnen hatte alles mit einem Mandat, das Dominique Renaud im Namen der Inartis-Stiftung von Benoît Dubuis vorgeschlagen wurde. Dubuis ist ausgebildeter Chemieingenieur und Wissenschaftler mit einem Hang zum Unternehmertum, der bislang von der Uhrmacherei keine grosse Ahnung hatte. Sein Fachgebiet sind die Biowissenschaften, seine Spezialität das Brückenschlagen zwischen den Disziplinen, sein Credo unternehmerisches und innovatives Handeln. Dubuis ist Direktor des Campus Biotech in Genf, Präsident der Stiftung Inartis und seit Mai 2022 auch Präsident der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften.

Dominique Renaud erhielt das Mandat im März 2020, einen Tag nachdem er sein vorheriges Unternehmen zum Konkurs angemeldet hatte. Er kannte Benoît Dubuis sowie Juliette Lemaignen, die für die Fondation Inartis zuständig sind, seit mehreren Jahren, der Uhrmacher benützte von der Stiftung gemietete Räumlichkeiten, und das Projekt war bereits angedacht worden. Dominique Renaud stand von einem Tag auf den anderen ohne Einkommen und ohne Job da, die Herausforderung, die Dubuis ihm vorschlug, war kolossal – also ganz nach seinem Gusto –, und er nahm sie an. Das Tandem war umgehend einsatzbereit: Dubuis hatte die Werkbank und die Maschinen von Renaud, der sich sofort an die Arbeit machte, aus dem Konkurs des Unternehmens gerettet. Und schon nach wenigen Skizzen war der Grundauftrag übererfüllt.

Dabei waren Wörter wie «Genom» und «Lebenszeitreserve» zunächst neu für den Uhrmacher, die Programmbeschreibung verblüffte ihn. Eines aber war ihm von Beginn an klar: Eine simple Anzeige wäre «nicht interessant». Renaud überlegte, Ideen keimten auf, es müsste ein Jahrhundertkalender werden, fand er, «eine schöne Entwicklung und eine Möglichkeit, Hoffnung über den Tod hinaus zu geben, etwas zu machen, das weitergereicht werden kann».

Der Moment für einen kleinen Exkurs über den Jahrhundertkalender ist jetzt gekommen. Ein normaler Ewiger Kalender zeigt das Datum korrekt an, egal ob der Monat 28, 29, 30 oder 31 Tage hat. Er identifiziert folglich mechanisch den Februar korrekt, auch in Schaltjahren. Der Jahrhundertkalender geht weiter und berücksichtigt die Vorgaben des Gregorianischen Kalenders. Er überspringt also den 29. Februar im Jahr null jedes neuen Jahrhunderts – mit Ausnahme jener Jahrhunderte, deren Jahreszahl nicht durch 400 teilbar ist, zum Beispiel 1700, 1800, 1900 oder 2100. 

tempus fugit

Der kleinste Jahrhundertkalender der Welt.

Quelle: PD

Die mechanische Umsetzung solcher Feinheiten ist hochkomplex, einige Taschenuhren schaffen es, darunter das berühmte Kaliber 89 von Patek Philippe. Für die Armbanduhr gab es lange Zeit keine Exemplare, bis 1996 Svend Andersen eine eigene Lösung präsentierte. 2007 folgte Franck Muller, seither gab es nichts mehr.
Dominique Renaud ging wie immer vor, er suchte nicht nach bereits bestehenden Lösungen, er verliess sich lieber auf seine Intuition: «Ich habe mich gefragt, wie ich meine eigene Uhr machen würde.» Und wie so oft fand er einen einfachen Schritt mit grosser Wirkung: Er drehte einfach alles um. Auf die komplexen technischen Feinheiten sei hier nicht eingegangen, sie hatten für den Uhrmacher aber einen verblüffenden Effekt: «Plötzlich konnte alles kleiner werden. Der Mechanismus, der sonst sehr viel Platz einnimmt, wurde zu einem kleinen Modul, einer ultrakompakten Rechen-Insel, die sehr viel Platz für die Anzeigen lässt.» Ohne es geplant zu haben, setzte Renaud damit einen Meilenstein, der nur schwer zu übertreffen sein wird: Er baute den kleinsten Jahrhundertkalender der Welt.

Die Idee war schnell geboren, die Umsetzung hingegen brauchte ihre Zeit. Und den Willen, jede Komponente zu überdenken, Konventionen zu überwinden und das Uhrwerk stilvoll zu gestalten. Dubuis bewies unendliche Geduld, alles dauerte länger als erwartet, aber er wusste, dass sich das Projekt lohnen würde.
Jetzt liegt die Uhr vor, entstanden auf ganz organische Weise, entwickelt in der Offenheit informeller Treffen, bei einem Fondue in den Risoux-Wäldern der Region zum Beispiel. Benoît Dubuis wusste nicht genau, worauf er sich eingelassen hatte. Dominique Renaud hatte nach einem anstrengenden Konkurs endlich wieder den Kopf frei. Und Julien Tixier sah sich trotz seines kometenhaften Aufstiegs immer noch als Neuling: Er hatte noch nie eine komplette Uhr gebaut.

Parallel dazu wurde der wissenschaftliche Teil vorangetrieben, die Uhr war auch der Vorwand für ein neues Protokoll zur personalisierten Bewertung der Lebenserwartung. Genetiker und Statistiker wurden beigezogen, ein Algorithmus entwickelt. Er ist in der Lage, alle aktuellen Daten und auch zukünftigen Fortschritte einzubeziehen. Und damit hat die Uhr eine weitere Funktion: Die Stiftung Inartis hat neuerdings einen Luxuszweig. 

Wenn die Zeit flieht, muss man eben erfinderisch sein.