«Erst nach einer Krise begannen Uhren meinen Namen auf dem Zifferblatt zu tragen.» Mitte der 1990er Jahre war es, Vianney Halter arbeitete als unabhängiger Zulieferer in Sainte-Croix. Die Uhrenindustrie lag damals brach – Krise. Halter suchte nach Aufträgen. Er musste sein Know-how bekannt machen, aber wie sollte er das tun? Er war Zulieferer aus Berufung, ein Handwerk des Schweigens und der Diskretion. Ausgeschlossen, dass er sich für Eigenwerbung auf das stützte, was er für seine Kunden realisiert hatte.
Genau dies war der Ausgangspunkt der Karriere von Vianney Halter als unabhängiger Uhrmacher und Designer, welche an der Basler Messe 1998 öffentlich begann. Es war auch der Ausgangspunkt für seine neueste Kreation, La Résonance. Ein Stück, das auf den ersten Blick von allem abweicht, was er bislang gemacht hat.
Vianney Halter ist bekannt für seine Uhren mit einer Ästhetik ausserhalb der üblichen Codes, La Résonance aber ist ein durch und durch klassisches Stück. Er ist bekannt für seine komplexen und innovativen Anzeigen, La Résonance aber hat eine elementare Drei-Zeiger-Anzeige. Er ist bekannt für seine ultratechnischen Inszenierungen, La Résonance aber ist von verblüffender Nüchternheit, eine auf ihr Wesen reduzierte Mechanik. Selbst die Komplikation, die sie enthält, ist so einfach dargestellt, dass man ihre Bedeutung fast vergessen könnte: zwei Unruhen, die in akustischer Resonanz stehen, ein physikalisches Prinzip, das zu Breguet, zur Wissenschaft und zu den universellen Gesetzen der Physik zurückführt.
Dennoch: Die Kreation ist eng mit Vianney Halter verbunden, dem Menschen, dem Uhrmacher, seiner Auffassung vom Beruf, seiner Welt und seiner Zeit. Im Grunde genommen ein Selbstporträt, eine Art mechanisches Alter Ego, für dessen Fertigstellung er mehr als ein Vierteljahrhundert benötigte, das er aber unter Zeitdruck in wenigen Monaten realisierte.
Die Anfänge von Vianney Halter
Die Résonance wurde im vergangenen Frühjahr am Genfer Salon vorgestellt. Die Serienproduktion ist im Gange, aber bis jetzt gibt es nur ein funktionierendes Exemplar, den Prototypen, dessen Finanzierung von einem Kunden unterstützt wurde. Er hat ihn Anfang November versteigern lassen und dafür beim Genfer Auktionshaus Phillips 250’000 Franken erzielt.
Zurück in die Mitte der 1990er-Jahre, 1996, um genau zu sein. Vianney Halter mangelte es an Aufträgen, aber er hatte Zeit. Also begann er, eine Uhr für sich selbst zu entwickeln, «ein Demonstrationsstück». Es sollte die Bandbreite seiner Meisterschaft veranschaulichen und zeigen, was er als Zulieferer draufhat. Es würde ein Modell namens Antiqua sein, in neuartigem Design, in der Anmutung eines retrofuturistischen Instruments. Innen eine spektakuläre Technik, ein Ewiger Kalender mit Fensterchenanzeige. Die Uhr sollte reich ausgestattet sein und zu seiner Signatur werden.
Während er an der Uhr arbeitete, grübelte er, dachte über andere Dinge nach, Dinge, die ihn beschäftigen. Der kanadische Pianist Glenn Gould gehörte zu seinen damaligen Lieblingen, dessen Bach-Variationen wurden gerade neu aufgelegt, und Vianney Halter hörte sie sich wie im «Bulimie-Modus» an. Er spürte in sich ein aufsteigendes, starkes Gefühl für das Instrument, für das Klavier. Er kaufte sich ein Klavier und stellte es in sein Atelier. Er hatte noch nie Klavier gespielt, er lernte es. Tonleitern am Vormittag, Uhrmacherei am Nachmittag.
Das Klavier war alt, es stammte von 1895, war empfindlich und musste häufig gestimmt werden. Doch ein Klavierstimmer ist Luxus, Halter begann, das Klavier selber zu stimmen. Dabei wurde er sich der Harmonien bewusst, er erkannte, dass die Saiten eines Tons zusammen schwingen, weil sie physikalisch durch eine Art Brücke verbunden sind. Er erkannte, dass auch die Stimmgabel aus zwei Stäben besteht, welche durch eine Brücke verbunden sind. Er stellte eine Verbindung zur Uhrmacherei her und erinnerte sich auch an die ersten Quarz-Oszillatoren, die wie eine Stimmgabel geschliffen waren.
Die Vorgehensweise war nicht wissenschaftlich, sondern intuitiv. Aber als Vianney Halter das Klavier neben der Werkbank aufstellte, wurde er plötzlich einer offensichtlichen Tatsache gewahr: «Eine Stimmgabel ist eine kleine Maschine, Atome, die miteinander verbunden sind. Alles ist mechanisch. Die Spirale ist eine Saite. Wenn man sie anschlägt, erhält man einen Ton, und wenn zwei Spiralen miteinander verbunden sind, entsteht ein Stimmgabel-Effekt.»
Das Geschäft nahm wieder Fahrt auf, das Klavier blieb, das Thema Resonanz wanderte ins Regal mit den Ideen für später. Mitte der 2000er Jahre kam es zurück.
Zusammenspiel von Handwerk und Wissenschaft
Im Jahr 2007 stellte Vianney Halter einen Prüfstand auf, indem er zwei russische Poljot-Borduhrwerke koppelte. Sie waren auf beiden Seiten einer Arbeitsplatte montiert und völlig voneinander getrennt. Ihre grosse Schraubenunruh wurde in akustische Resonanz versetzt, und zwar durch den Spiralklötzchenhalter am äusseren Ende der Spiralfeder, der als Brücke fungierte und die Schwingungsenergie übertrug, eine Welle. Versuch um Versuch wurde durchgeführt. Und wieder ging es zurück zum Alltagsgeschäft.
September 2015, eine Nachricht aus der Wissenschaft weckte den Uhrmacher: Ein Signal im Universum belegte die Existenz von Gravitationswellen, die Albert Einstein ein Jahrhundert zuvor beschrieben hatte. Die Nachricht wurde 2016 veröffentlicht, Vianney Halter war ganz aufgeregt: «Von Quarz bis Universum – der Stimmgabel-Effekt kann auf allen Skalen gespielt werden. Die Verbindungen sind vorhanden. Ich bin kein Wissenschafter, aber ich kann etwas konstruieren, das mich ihrer Welt näherbringt.»
Die Erfindung Deep Space
Die Arbeit wurde fortgesetzt. 2018: Entwicklung eines reproduzierbaren Mechanismus auf dem Prüfstand. 2019: Bestätigung des Prinzips. Bis 2020: Miniaturisierung. Das Phänomen der akustischen Resonanz konnte jetzt in ein Handgelenkkaliber integriert werden. Das Team wagte das Unmögliche und beschloss, es in das dreiachsige Tourbillon des Modells Deep Space Tourbillon einzubauen. Energiemanagement, Ungewissheit, Covid: «Es gab nur noch den Zwang, Uhrmacher an der Werkbank zu sein.» Anfang 2021 wurde Deep Space Resonance erstmals öffentlich gezeigt: «Alle Dimensionen in einem einzigen Objekt.»
Das war nicht alles: Deep Space Resonance bestand nur aus Brücken und Säulen. Für Vianney Halter war das noch keine Uhr, sondern «ein Messinstrument um einen technologischen Block herum». Das zeigte sich auch daran, dass die Uhrzeit auf einem Schiebesystem abzulesen war, wie auf einem Rechenschieber.
Das Phänomen der Resonanz wurde mit einer Hochfrequenzkamera untersucht. Es war nicht eine Messung im eigentlichen Sinne, sondern mehr eine Bestätigung, wie Halter sagt: «Die beiden unabhängigen Unruhen beginnen fast augenblicklich im gleichen Rhythmus zu schwingen, sehr stabil, ohne Phasenverschiebung.»
Jetzt begann der Ernstfall: Die Deep Space Resonance war ein Demonstrationsstück, nun war das Ziel da, eine Resonanzuhr zu bauen. Eine Uhr sollte es sein, die «der reine Ausdruck» dessen ist, was Vianney Halter vor 25 Jahren empfunden hatte. Man schrieb das Jahr 2021, es musste jetzt schnell gehen, keine Zeit war zu verlieren, keine andere Priorität durfte sich in den Vordergrund schieben. Es ging nur noch um eins: «Es tun!»
Die Inspiration lag vor Vianney Halters Augen: «Ein Kaliber ohne Platine, nur Brücken und Pfeiler, wie es das dreiachsige Tourbillon erzwungen hatte.» Eine freie Architektur, ohne Stütze, wie ein Kreisel. «Es brauchte dieses Tourbillon, um zu verstehen, wie man das Kaliber von La Résonance bauen muss.» Dann wurde das Gehäuse in Angriff genommen, klassisch, minimal. Rechts eine verglaste Flanke, um die Unruh zu sehen, ohne die Uhr abnehmen zu müssen, aus Titan. Und ultraleicht – die Uhr wiegt 36 Gramm.
Das Vierteljahrhundert ist abgeschlossen. Als hätte er geahnt, dass die Reise in die Resonanz so lange dauern würde, hatte Vianney Halter bereits den Schlusssatz parat: «Sometimes things are worth waiting for!»
Dieser Text erschien zuerst in «Watch Around».