Herr Müller, die Exportstatistik erzählt von einem erneuten starken Einbruch, minus 12,6 Prozent im Wert und minus 20,8 Prozent im Volumen. 

Ja, die Tendenz ist sehr negativ. Aber wie ich an dieser Stelle seit Anfang Jahr betone: Man muss die Zahlen kontextualisieren und sehen, dass wir auf einer Zwei-Jahres-Vergleichsbasis und nach drei historischen Rekordjahren immer noch sehr gut unterwegs sind. 

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Bleiben Sie bei Ihren minus 5 Prozent bis Ende Jahr? 

Auf jeden Fall. Und auch wenn wir das Jahr bei minus 10 Prozent abschliessen – ich denke, das wird nicht der Fall sein –, wären wir noch über dem Wert von 2021 und nahe bei 2022. 

Reden wir über die Differenz zwischen Exportwert und -volumen. Das heisst, dass die Top-5-Marken – Rolex, Cartier, Omega, Audemars Piguet (AP) und Richard Mille – nicht gross tangiert sind vom Katzenjammer, richtig? 

Leider ist das nicht der Fall, oder zumindest kann man nicht generell eine solche Aussage machen. Es sind eigentlich nur Uhren über 100’000 Franken, die – fast – nicht von der allgemeinen Konsumflaute im Luxussegment tangiert sind. Aber sogar bei einer Marke wie Richard Mille mit einem Durchschnittsverkaufspreis von 275’000 Franken hört man, dass kein Wachstum mehr da sei. Bei Uhren mit einem Retailpreis von 20’000 bis 40’000 Franken gibt es hingegen einen starken Rückgang. Das ist die Preiskategorie, in der man die sogenannten «hot cakes» findet, wie die Royal Oak von AP, die Nautilus oder die Aquanaut von Patek Philippe. 

Was ist mit Rolex?

Bei Rolex sieht es so aus, dass das Jahr bei der Hauptmarke stabil mit weniger Volumen, aber leichten Preiserhöhungen ausfallen wird. Die Schwestermarke Tudor aber ist im tiefen zweistelligen Minusbereich unterwegs.

Echt?

Ja, und da sieht man wieder einmal, wie tragfähig das Markenkapital ist. Deshalb ist auch Cartier gut unterwegs, weil die Marke stark ist und Ikonen zu realistischen Preisen anbietet. Der Rest leidet, die einen mehr, die anderen weniger. 

Leider werden wir einige Marken – nicht nur Nischenplayer – aus dem Markt gehen sehen.

Oliver Müller prognostiziert: «Leider werden wir einige Marken – nicht nur Nischenplayer – aus dem Markt gehen sehen.» 

Quelle: Guillaume Megevand

Sie haben schon vor Monaten angekündigt, dass einigen die Luft ausgehen wird …

… vorläufig sind es noch die Lieferanten dieser Marken, die den Schock wie ein Sicherheitsventil absorbieren müssen. Es wird aber bald keine Marge mehr da sein, die ersten Marken sind schon in der Endphase. Einige CEOs hoffen noch auf eine Trendwende, aber ich verstehe nicht, auf was und auf wann sie hoffen. Leider werden wir einige Marken – nicht nur Nischenplayer – aus dem Markt gehen sehen. Wenn bei einer Marke, die ein paar Millionen Umsatz schreibt, das Licht ausgeht, merkt das keiner. Aber wenn wir bei historisch bedeutenden Marken ankommen werden – und das werden wir –, wird die Industrie merken, dass diese Krise viel schlimmer ist, als diejenige im Zug der Finanzkrise 2009 es war. 

Ihr Ernst?

Viele begreifen nicht, dass die Exportzahlen – die einzigen öffentlich zugänglichen Zahlen unserer Industrie – Durchschnittszahlen und daher nicht sehr aussagekräftig sind. Fünf von mehr als 400 aktiven Swiss-made-Marken machen mehr als 50 Prozent der Abverkäufe aus. Solange es Rolex und Patek Philippe gut geht, meinen alle, die Industrie sei noch stabil.

Wie geht es den Zulieferern, die als Puffer herhalten müssen? 

Da ist die Situation katastrophal, und nach fast drei Jahrzehnten Tätigkeit in dieser Industrie, die sehr zyklisch ist, wage ich zu behaupten, dass diese Krise die schlimmste ist, die ich je gesehen habe. Ich war letzthin im Jura unterwegs und habe noch nie so viele Fabriken gesehen, die ganz oder teilweise geschlossen waren. Man hört bei einigen Lieferanten, dass die Auftragsbücher bei 30, 40, 50 Prozent unter Vorjahr sind. Da können Sie sich leicht ausrechnen, dass dies bei einigen Firmen fatale Folgen haben wird.

Was braucht diese Industrie, um aus dem Sumpf zu kommen?

Volumen. Marken wie Rolex, Omega, TAG Heuer oder Breitling müssen Erfolg haben, damit wir weiterhin genügend Arbeit haben. Ich sage immer, man muss Firmen wie Rolex oder der Swatch Group dankbar sein, dass sie immer noch industrielle Kapazitäten besitzen und sogar ausbauen. Ohne sie kann man – mal ganz brutal ausgedrückt – das Licht löschen.

Wann rechnen Sie mit einer Trendwende? 

Das ist jetzt die schlechte Nachricht, denn wir befinden uns in einem – wie es so schön heisst – «perfekten Sturm». Ich sehe keine wesentliche Besserung vor Ende 2025 respektive vor dem ersten Quartal 2026. Aktuell haben wir gleichzeitig mit einer strukturellen Schwäche und einer konjunkturellen Abschwächung zu kämpfen. Strukturell, weil zu viele Marken auf dem Markt sind und wir es – wie übrigens die ganze Luxusindustrie – mit den Preiserhöhungen übertrieben haben. Dazu China, das unser Wachstum während zweier Jahrzehnte getragen hat, aber nie mehr auf Vor-Covid-Level steigen wird.

Indien soll das neue China werden.  

Leute, die sagen und schreiben, dass Indien für die Luxusindustrie das nächste China sein werde, verstehen nichts von diesem Markt. Und vor allem haben sie nicht begriffen, dass sich diese zwei Märkte extrem stark in ihrem Maturitätsgrad unterscheiden. Ich sehe ein Riesenpotenzial bei der Mittelklasse, auch in China, und das wird den Swatch-Group-Marken oder auch Brands wie Frédérique Constant oder Raymond Weil, die im mittleren Preissegment unterwegs sind, helfen. Indien hat im März mit der EFTA einen bilateralen Freihandelsvertrag unterschrieben. Darin war unter anderem enthalten, den Importzoll für Schweizer Uhren von 22 Prozent auf Null zu setzen, auf 7 Jahre verteilt und sobald die beiden Parlamente ratifiziert haben. Letzten Sonntag hat aber die Presse in Indien kolportiert, dass auf Ministerebene diskutiert wird, für Luxusgüter - Uhren sind namentlich erwähnt - ab einem Wert von 25‘000 Rupien, was etwa 260 Franken entspricht, den Steuersatz von 18 auf 28 Prozent zu erhöhen.  Dafür würden Steuern auf Güter die Grundbedürfnisse erfüllen, wie Wasserflaschen oder Fahrräder, kompenisert. Das ist noch nicht spruchreif, soll aber zum Nachdenken anregen…

Bucherer macht in Shanghai die erste Rolex-Boutique in China auf. Ein Statement, nicht wahr?

Absolut. Falls noch jemand glauben sollte, dass Rolex Bucherer nur darum gekauft hat, weil sie verhindern wollten, dass jemand anders zum Zug kommt, müsste mittlerweile begriffen haben, dass das nicht der Fall war. Mit vier Retailpartnern in China und zwölf Verkaufspunkten alleine in Shanghai bräuchte es im absoluten Sinn keinen zusätzlichen Verkaufspunkt, aber genau dort eröffnet Bucherer die erste Rolex-Boutique. Rolex wird Bucherer dazu nutzen, den Retail längerfristig zu einem wesentlichen Teil selber zu betreiben.

Wenn wir grad dabei sind: Rolex hat TAG Heuer die Formel 1 überlassen. Imponiert mir. Ihnen?

Das ist kohärent und konsequent, denn die Marke kann nicht auf der einen Seite sagen, dass sie den Planeten retten wolle mit ihrer grosszügigen Unterstützung von Umweltprojekten, und gleichzeitig eines der grössten Umweltverschmutzungsprojekte – die Formel 1 – als Hauptsponsor unterstützen. Im 21. Jahrhundert darf man als globale Marke keine solchen Fehler machen. Gut für TAG Heuer und LVMH, aber ich sehe das mehr als Opportunismus denn als langfristiges, durchdachtes Sponsoring an.

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