Im 18. Jahrhundert baumelte das Pendel kunstvoll geschnitzter Standuhren – heute auch «Grandfather Clocks» genannt – in fast jedem Haushalt, der es sich leisten konnte. Das Ablesen der Zeit war etwas Gemeinschaftliches. Doch so wie das Handy das gemeinsame Festnetz verdrängt hat, haben auch Entwicklungen in der Uhrenindustrie wie die Miniaturisierung dazu geführt, dass immer weniger auf grosse (Uhren-)Werke gesetzt wird. Zwar schaudert es viele immer noch, wenn sie an das nervtötende Ticken und den lauten Gong denken, aber gerade für Uhrenliebhaber lohnt sich wieder ein Blick in die Welt der Wand- oder Tischuhren: Denn diese Grossuhren brillieren nicht nur mit kunstvollem Design, sondern sind auch technische Wunderwerke – mit spannenden Geschichten dahinter.
Ball Clock, George Nelson
Zu den Favoriten unter den Wanduhren gehört die berühmte Ball Clock, die George Nelson, einer der Väter des Mid-Century-Modern-Designs, 1947 für Herman Miller entwarf. Heute ist das Design im Besitz von Möbelhersteller Vitra. Nelson selbst gab zu, nicht genau zu wissen, wer der eigentliche Schöpfer der Ball Clock ist. Denn die Skizze entstand eines Abends in einer Bar, als er zusammen mit dem Architekten Buckminster Fuller, dem Industriedesigner Irving Harper und dem Künstler Isamu Noguchi unter Gelächter, Geplänkel und knallenden Korken auf Zeichenpapier herumkritzelte.
Die Ball Clock ist ein Kind ihrer Zeit. Sie spielt mit den in den 1950er Jahren häufig verwendeten Symbolen der Sternschnuppe und des Sternchens. Die runden Kugeln erinnern auch an das Atomzeitalter und die Atommodelle, welche die Physiker Niels Bohr und Ernest Rutherford drei Jahrzehnte zuvor erstmals veröffentlicht hatten. Wer auch immer die Ball Clock wirklich entworfen hat, das Design passt perfekt zu Nelsons gründlicher Analyse des Uhrengebrauchs: Erstens lesen die Menschen die Zeit an der Position der Zeiger ab – was Zahlen überflüssig macht. Und zweitens tragen die meisten Menschen Armbanduhren, sodass bei Wanduhren das Design wichtiger ist als die Genauigkeit. Mission erfüllt!
Wall Clock, Naoto Fukasawa
Ein monochromer Traum für alle Minimalisten, entworfen vom japanischen Designer Naoto Fukasawa. Die Marke des Industriedesigners wurde 2003 gegründet und wird auch in Europa verkauft. Wanduhren sind in Japan bis heute weitverbreitet, in fast jedem traditionellen Restaurant hängt dort eine Wanduhr von Seikosha, einer Tochterfirma des japanischen Branchenriesen Seiko.
Fukasawa bringt den Zeitgeist in die Wall Clock, indem er ABS-Kunststoff als Hauptmaterial verwendet. Dennoch arbeitet er mit einer Technik, die aus der Uhrengeschichte bekannt ist: dem Schatten. Zeiger und Stundenmarkierungen bestehen aus dem gleichen farbigen ABS-Kunststoff wie das Zifferblatt. Sie ragen gerade so weit heraus, dass sie einen Schatten werfen, und weit genug, um das Ablesen der Zeit zu erleichtern.
Clock, Christiaan Postma
Diese Uhr ist ein Werk des niederländischen Künstlers und Designers Christiaan Postma. Er hat mehr als 150 einzelne Uhren auf einer 140x140 cm grossen Platte montiert. Auf den ersten Blick scheinen die Stunden- und Minutenzifferblätter willkürlich angeordnet zu sein. In Wirklichkeit hat Postma die Uhren und ihre Zeiger sorgfältig aufeinander abgestimmt: Um 12 Uhr beispielsweise buchstabiert eine Gruppe von Einzeluhren am oberen Rand der Tafel das Wort «Zwölf».
Und wenn es 15.30 Uhr ist? Nun, wenn die «Drei» in die «Vier» übergeht, zerfällt Erstere in unleserliche Striche, während Letztere die Form eines echten Wortes annimmt, in diesem Fall «Vier». Die Uhr geht nicht auf die Minute genau, aber man kann sie stundenlang beobachten.
Jaeger-LeCoultre Atmos
Die Tischuhr Atmos von Jaeger-LeCoultre aus dem Jahr 1928 verblüfft noch heute. In einer hermetisch verschlossenen Kapsel befindet sich ein Gasgemisch, das sich bei jeder Temperaturschwankung ausdehnt oder zusammenzieht. So zieht sich die Uhr auf natürliche Weise selbst auf – ohne menschliches Zutun. Der avantgardistische Charakter der Atmos hat viele Neuinterpretationen inspiriert, besonders cool ist die Atmos 568 von Marc Newson. Das von Newson verwendete Baccarat-Kristallglas macht die Atmos nämlich nicht nur zu einer Uhren-, sondern auch zu einer Designikone.
Asphalt Clock, Gabriela Chicherio
Kaum jemand weiss, dass Asphalt ursprünglich ein echter Geniestreich war. Weil Teer krebserregende Stoffe enthält, wurde er 1991 in der Schweiz verboten und durch Asphalt, ein Gemisch aus Bitumen und Gestein, ersetzt. Doch nun steht auch der geniale Asphalt in der Kritik. Vor allem, weil er die Städte aufheizt.
Gabriela Chicherio fand die Kontroverse um das Material spannend und hat gebrochenen Asphalt von Zürcher Baustellen (Uster- und Rigistrasse) erhitzt und wieder in Form gebracht.
Das Resultat ist eine schlichte, tiefschwarze Tischuhr mit einer unregelmässigen und einzigartigen Struktur. Das umstrittene und allgegenwärtige Material Asphalt erhält durch Chicherio ein neues Einsatzgebiet – von der Strasse ins Wohnzimmer. Clever!