Es sind wieder einmal zwei gut 20-Jährige, die gerade dabei sind, mit einer Internetidee die halbe Branche zu begeistern. Jeremy Gardner und Joey Krug heissen die beiden Amerikaner, und sie entwickeln eine Methode, mit der die Wahrscheinlichkeit von künftigen Ereignissen besser als heute abgeschätzt werden kann. Millionen haben sie bei ihrem Crowdfunding bereits erhalten. Nun fehlt noch ein Domizil für ihr Projekt Augur. Die Schweiz ist aber ein Kandidat.
Augur ist eine Internetplattform, ein Markt für Voraussagen. Einfach gesagt, kann man auf Augur Wetten abschliessen über den Ausgang irgendeines künftigen Ereignisses. Zum Beispiel darüber, ob Hillary Clinton die nächste Präsidentin der USA wird.
Die Quoten solcher Wetten sind öffentlich und spiegeln die Überzeugungen der Teilnehmer. Das ist der Clou der Sache: Die private Wette wird gleichermassen zu einem öffentlich zugänglichen Instrument, um Anhaltspunkte über künftige Entwicklungen zu erhalten. «Ein Frühwarnsystem für alles», sagt Jeremy Gardner.
Keine Zensur
Solche Prognosemärkte gibt es schon lange: Intrade, Betfair und Sportsbetting, um nur einige zu nennen. Doch bisher stand hinter den Angeboten stets eine Firma: Die Gebühren waren relativ hoch, man musste den Anbietern vertrauen, stets bestand die Gefahr von Manipulation, einige Anbieter mussten dichtmachen. Und vor allem: Die Themenauswahl war beschränkt.
Bei Augur ist das anders. Jeder kann eine Wette lancieren, oder allgemein gesagt: Einen Markt für eine spezifische Prognose ins Leben rufen. Zum Beispiel, ob der FCZ Wintermeister wird, ob es im Mittleren Westen Amerikas 2016 maximal 200 Millimeter Regen gibt oder ob der SMI Ende Oktober unter 8000 Punkten steht.
Alles ist möglich, ohne Zensur, und das aus einem Grund: Augur ist eine dezentrale Plattform, ein Stück Software, die überall auf der Welt gleichzeitig läuft und deshalb diese Freiheiten ermöglicht. Es gibt keine Moderatoren, die eingreifen könnten. Keine zentralen Server bei einer Firma, die plötzlich heruntergefahren werden. Niemand kann Einfluss nehmen – auch nicht Regulatoren und Regierungen. Alles ist programmiert und läuft, ohne dass jemand Augur unterhalten müsste.
Neuland dank Blockchain
So etwas hat es bisher noch nicht gegeben. Es ist Neuland. Möglich wurde dies dank der sogenannten Blockchain-Technologie, auf der auch die Digitalwährung Bitcoin basiert. Tausende von Computern kommunizieren weltweit miteinander und verständigen sich darüber, welche Transaktionen gültig und demzufolge zu verarbeiten sind. Das System ist kaum zu knacken: Selbst wenn Hunderte Computer aussteigen oder Hunderte von Computerbetreibern betrügen möchten, so haben sie gegen die geballte Macht der anderen Computer keine Chance.
Augur benutzt diese Kraft und Widerstandsfähigkeit aus der Bitcoin-Welt und lässt sein Programm ebenfalls auf Tausenden von vernetzten Computern laufen. Die Rechenmaschinen stellen dank einem ausgeklügelten Mechanismus Konsens über alle global laufenden Wetten und Einsätze her. Statt auf der Bitcoin-Blockchain läuft Augur auf der Weiterentwicklung Ethereum. Damit lassen sich nicht nur digitale Währungen dezentral verwalten, sondern eben ganze Computerprogramme. Das Spektrum von Anwendungen ist noch gar nicht abschätzbar. Doch neu ist – und darin liegt das Potenzial –, dass Programme erstmals autonom und unkorrumpierbar mit digitalem Geld umgehen können. Das macht Projekte wie Augur erst möglich.
Tatbeweis steht noch aus
Noch befindet sich alles im Anfangsstadium. Die Basis-Technologie Ethereum ist erst seit zwei Monaten im Einsatz, Augur will im ersten Quartal 2016 live gehen. Entscheidend wird sein, dass die Plattform mit der Zeit grosse Wettvolumina anzuziehen vermag. Nur so könnten sich thematisch wirklich breite Prognosemärkte entwickeln. Und da liegt auch gerade die Gefahr: Heute ist alles, was mit Kryptowährungen und Blockchain zu tun hat, ein Randphänomen. Trotzdem sind die Erwartungen gigantisch. Beide Innovationen gehören zu den bisher erfolgreichsten Crowdfunding-Projekten. Ethereum erhielt 18 Millionen Franken, Augur bisher knapp 5 Millionen.
Inzwischen haben auch fünf grössere Banken in Europa ihr Interesse angemeldet und prüfen eine Form der Zusammenarbeit. Offenbar haben in der Schweiz ebenfalls Gespräche stattgefunden.
Die Weisheit der Vielen
Auch Versicherungen zeigen sich aufgeschlossen. Sie sind auf Gedeih und Verderb auf aussagekräftige Prognosen und Absicherungen angewiesen. Die Weisheit der Vielen, wie sie Augur offerieren möchte, liefert zu sehr vielen Fragen oftmals präzisere und raschere Antworten, als jene von einzelnen Experten. Selbst Geheimdienste wie die CIA gehören zu den Anhängern von sogenannten Prediction Markets, welche ihnen glaubhafte Einschätzungen zum Beispiel der politischen Lage in spezifischen Ländern liefern können.
In der Praxis wird Augur folgendermassen funktionieren: Auf der Plattform kann man Anteile am mutmasslichen Ausgang eines Ereignisses kaufen, also etwa der Wahl Clintons bei den Präsidentschaftswahlen. Tritt das Ereignis ein, so wird ein solcher Anteil einen Wert von 1 Dollar haben. Falls nicht, sinkt der Wert auf 0. Die Anteile können auf der Plattform gehandelt werden, so dass sich deren Wert fortlaufend ändert und zwischen den Extremwerten schwankt. Damit wird der Wert eines Anteils direkt zu einem Indikator für die Einschätzung der Wettenden, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis eintreffen wird. Stolpert Clinton über eine massive Affäre, werden Wettende vielleicht nur noch 10 Cents für einen Anteil am Ereignis „Clinton wird Präsidentin“ bezahlen wollen. Straucheln ihre Gegner, zahlen die Wettenden vielleicht 60 Cents.
Die meisten Prognosemärkte lösen sich von selber auf, weil der Ausgang unbestritten sein wird, und die Anteile danach deshalb entweder zu quasi 0 oder 1 Dollar gehandelt werden. Das Programm wird in diesen Fällen den Markt automatisch schliessen.
Die Rolle der Schiedsrichter
Doch es wird Fälle geben, wo die Quoten nicht gegen die Extremwerte tendieren und eine Instanz ein Urteil wird fällen müssen, ob ein Ereignis tatsächlich eingetreten ist. Auch in Augur gibt es diese Instanz. Aber sie ist dezentral. Tausende menschliche Richter überall auf der Welt berichten nach Ende eines solchen Prognosemarkts, ob das Ereignis wirklich eintrat. Die entscheidende Frage lautet: Warum sollten sie dies verlässlich und wahrheitsgemäss tun?
Die Antwort lautet: Weil sie einen finanziellen Anreiz haben. Sie erhalten einen Anteil an den Wettgebühren. Aber der einzelne Schiedsrichter erhält die Entschädigung nur dann, wenn er mit der Mehrheit der Schiedsrichter entscheidet. Damit haben sie einen Anreiz, so abzustimmen, wie sie annehmen müssen, dass es die andern auch tun. Und das ist natürlich: Entlang der Wahrheit. Gewinnt Clinton, ist es unwahrscheinlich, dass die anderen Schiedsrichter das Gegenteil behaupten werden.
Neue Medienplattform
Bereits tüftelt Augur an einer Verfeinerung des Mechanismus und kooperiert bei der Forschung unter anderem mit IBM und unabhängigen Experten zu künstlicher Intelligenz. Computer sollen News-Artikel autonom scannen und den Schiedsrichtern danach einen Vorschlag zur Frage machen, ob ein Ereignis tatsächlich eingetreten ist. Das dürfte das ganze Schiedsrichter-Prozedere effizienter und damit skalierbar machen.
Jeremy Gardner und Joey Krug denken bereits weiter. Mit der Zeit werden sich auf Augur Experten herauskristallisieren, die zu bestimmten Themen meist richtig liegen und zutreffende Prognosen abgeben. Sie werden über aussergewöhnliches Wissen und grosse Klarheit über aktuelle Trends in ihrem Spezialgebiet verfügen, wie ihr Track-Record auf Augur beweisen wird. Das wollen die Augur-Macher nutzen und treiben bereits das Projekt einer Medienplattform voran, auf welcher diese Experten gegen Entgelt Kommentare, Einschätzungen und Beratungen anbieten.