Sie begleiten Firmen auf dem Weg in die Digitalisierung. Was ist das Schlimmste, das schieflaufen kann?
Myriam Locher*: Gefährlich wird es, wenn Sie den Prozess von Leuten durchsetzen lassen, die von den Regeln menschlicher Veränderung nur sehr wenig verstehen. Denn es geht bei weitem nicht nur um die Entscheidung für die richtigen Tools, sondern um die richtige Kommunikation an ihre Nutzer. Können Firmen bei ihren Mitarbeitenden keine Begeisterung auslösen, kommunizieren sie die Beweggründe für den Wandel schlecht und begleiten ihre Leute nicht ausreichend, ist der Transformationsprozess zum Scheitern verurteilt.

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Die Liste der Anforderungen ans Management ist also lang.
Der digitale Wandel bedeutet Veränderung für alle Beteiligten. Dieser Prozess braucht Aufmerksamkeit und vor allem das Wissen, wie er erfolgreich umgesetzt werden kann. Oft wird vollkommen unterschätzt, dass am Anfang einer Umstellung die Dinge langsamer laufen. Das ist keine Aussage dazu, ob die Entscheidung für mehr Digitalisierung richtig war, das hat mit der reinen Biologie menschlichen Verhaltens zu tun.

Inwiefern?
Menschen fallen unter Druck in alte Verhaltensmuster zurück. Denn diese sind über Jahre gut trainiert worden. Das neue, gewünschte Verhalten aber ist erst wenige Male abgerufen worden. Unser Gehirn nimmt gerne die dreispurige Autobahn statt den schmalen Kiesweg - auch wenn es damit in die falsche Richtung geht. Neues Verhalten wird erst nach zwei bis drei Monaten implementiert - und auch nur dann, wenn die neuen Prozesse sauber aufgesetzt werden. Oft ignorieren Firmen bei dem Thema die reine Biologie.

Welche Fehler sehen Sie noch sehr häufig?
Es ist für mich immer wieder verblüffend, wie sich die Führungsriegen an Konferenzen über exponentielles Wachstum austauschen und intern noch arbeiten wie in den 1990er-Jahren. Das ist sehr gefährlich. Wir reden davon, dass wir in den kommenden 20 Jahren den gleichen Entwicklungssprung sehen werden, wie wir ihn in den letzten 1000 Jahren vollzogen haben. Es geht darum, maximal agil zu sein und eine herausragende Fehlerkultur zu etablieren. Das ist die notwendige Basis, um in dieser Zeit schnell genug lernen zu können.
 
Was steht zu Beginn des Transformationsprozesses, den Firmen für die Digitalisierung starten müssen?

Drei Dinge: Die interne Arbeitsweise muss zur Produktvision passen. Digitalisierung kann nur gelingen, wenn sie extern und intern konsequent vollzogen wird. Dann muss offengelegt werden, welche Glaubenssätze im Entscheiderteam vorherrschen und ob diese den Prozess vielleicht sabotieren werden. Das ist fast immer der Fall, meistens sind sich die Beteiligten dessen nicht mal bewusst. Hier muss Transparenz her und sorgsam, aber zügig dafür gesorgt werden, dass alle tatsächlich an einem Strang ziehen. Wenn der Prozess scheitert, liegt es daran, dass dieser Schritt übersprungen wurde.
 
Und drittens?
Eine saubere Kommunikationsstrategie muss her. Die schlausten Köpfe sind leider selten die charismatischsten Redner. Charisma ist aber trainierbar.
 
Was ist bei der Umsetzung zu beachten?
Alle Beteiligten müssen begleitet und unterstützt werden: Es braucht die richtigen Werkzeuge, um jahrelange Prozesse aufzubrechen. Die Umsetzung muss laufend kontrolliert werden. Gerne werden Tools implementiert und die Übung damit für abgeschlossen erklärt. Doch auch das ist gefährlich. Viele Firmen arbeiten dann mit halbfertigen Lösungen, weil sie einfach nicht wissen, wie man den Prozess menschlicher Veränderung sauber aufsetzt und begleitet.
 
Welche Firmen kommen klassischerweise zu Ihnen?
Wir haben viele Kunden, die schon einige Versuche unternommen haben, aber unzufrieden sind mit den Resultaten. Ziele wurden verfehlt, es geht ihnen nicht schnell genug oder sie kämpfen gegen internen Widerstand. Da gehen wir hin und fragen: Wie sehen eure Ansprüche aus, was wollt ihr leisten? Und dann die wichtigste Frage: Aus welchem Grund wollt Ihr die Transformation? Dann räumen wir auf und setzen den Prozess richtig auf.

Was sind falsche Beweggründe für eine digitale Transformation?
Am häufigsten sehen wir, dass der Transformationsprozess auf Glaubenssätzen und Werten basiert, die für das Tempo unserer Dekade ungeeignet sind. Etwas einfacher ausgedrückt: Es fehlt der Mut, unternehmerisch zu denken und zu handeln. Das Schöne ist, man kann sich für diesen internen Kulturwandel auch etwas mehr Zeit lassen und dabei schon mal für die richtige Ausgangslage sorgen: Denn digitaler Wandel kann im besten Sinn bedeuten, die eigenen Mitarbeitenden von unnötigen Arbeiten zu befreien und ihnen Raum für sinnvolle und produktivere Aufgaben zu geben.

Und da sehen Sie viel Potenzial?
Es macht mich traurig zu sehen, wie viel Intelligenz und Einsatzbereitschaft verschwendet wird, weil Menschen im Job weder kollaborativ noch transparent sind und schon gar nicht schnell arbeiten können. Es gibt inzwischen viele gute Werkzeuge, die das möglich machen. Oft sind sie aber nicht sauber implementiert. Viele Unternehmen sitzen auf einem hoch performanten Sportmotor und fahren damit nur im ersten Gang.

Wie kann man konkret mehr herausholen?
Menschen arbeiten mit einer Vielzahl von Programmen, die untereinander nicht sauber kommunizieren. Eine Information ist auf dem eigenen Server hinterlegt, die andere liegt irgendwo im Posteingang oder noch schlimmer auf dem Desktop. Daneben gibt es Chatprogramme, Projekttools und vieles mehr. Das Hin und Her zwischen den einzelnen Tools kostet sehr viel Aufmerksamkeit und reduziert die Qualität der Arbeit dramatisch. Denn Menschen sind sehr schlechte Multitasker.
 
Viele behaupten aber, darin sehr gut zu sein.
Das höre ich auch immer wieder und es ist ganz grosser Quatsch. Dinge simultan zu tun, also ständig hin und her zu springen zwischen Tools, dauert durchschnittlich drei bis fünf Mal länger, als sequentiell zu arbeiten – also sauber eine Sache nach der anderen zu erledigen. Schlecht integrierte Arbeitstools verdonnern uns dazu, ständig auf vielen Kanälen gleichzeitig zu arbeiten. Ganz konservativ geschätzt, kostet das jeden Mitarbeiter mindestens eine Stunde am Tag. Das sind im Monat 2,5 Tage. Und das ist nur der reine Zeitverschleiss. Noch gar nicht quantifiziert ist hier der Qualitätsschaden, weil die wichtigen Informationen im richtigen Moment nicht zugänglich sind.

Was ist der grösste Zeitkiller?
Neben schlecht integrierten Arbeitstools kann das ganz profan die E-Mail sein. In vielen Unternehmen hat sich noch nicht durchgesetzt, wann synchrone und asynchrone Kommunikation sinnvoll ist. Eine E-Mail ist dann geeignet, wenn es für mich okay ist, wenn der Angeschriebene nicht sofort reagiert. Aber sie ist ungeeignet, wenn ein einfaches Problem effizient gelöst werden muss. Dafür gibt es Chat-Programme. Wichtig ist, dass alle Tools integriert und durchsuchbar sind - also keine Informationssilos entstehen. Im Kern steht die Frage: Welche Ausgangslage sorgt dafür, dass Menschen ungehindert und im Fluss denken und kommunizieren können?

Das klingt schon fast philosophisch.
Das ist es im eigentlichen Sinn des Wortes auch. Ich sehe den Wert meiner Arbeit darin, Menschen zu helfen, das Beste aus sich herauszuholen. Es geht darum, die richtige Ausgangslage für Höchstleistung zu schaffen. Und die völlig unnötigen Bremsklötze aus dem Weg zu räumen.

Sehen Sie darin den eigentlichen Wert von Digitalisierung?
Absolut. Wir stehen gerade an der Grenze zu einem vollkommen neuen Verständnis von Leistung. Die technische Entwicklung wird uns von Routinearbeit und reiner Reproduktion, von Dingen, die wir seit Jahren durchführen, befreien. In diesem Zusammenhang gibt es einige wichtige Fragen. Damit uns die besten Antworten einfallen, müssen wir uns trauen, uns voll in diese Entwicklung hineinzugeben. Der gute Yoda aus Star Wars hat uns das schon vor langer Zeit erklärt: «Do or do not, there is no try.»

Die Transformatorin
Name: Myriam Locher*
Funktion: Gründerin und CEO Bettermind, Partnerin Blackboat
Karriere: Die Schweizerin Myriam Locher studierte an der Universität St. Gallen und arbeitete unter anderem für DeinDeal. Sie berät Firmen bei der digitalen Transformation.