Im Streit um den Baustoffhersteller Sika ist am Freitag ein erstes, wichtiges Urteil gefallen. Das Kantonsgericht in Zug wies die Klage der Schenker-Winkler Holding gegen die Sika ab – und gab damit dem Verwaltungsrat um Präsident Paul Hälg recht, der sich dagegen wehrt, dass der französische Konzern Saint-Gobain bei der Sika die Kontrolle übernimmt.
Das Gerichtsdokument ist 47 Seiten lang und strotzt vor Juristenjargon. Zum Verständnis übersetzen wir die wichtigsten Punkte in die Alltagssprache (schliesslich ist dies hier ein Ökonomieblog). Was ist das Urteil einzuschätzen? Warum kann die Familie Burkard ihre Aktien nicht wie geplant an Saint-Gobain verkaufen? Und wie geht es weiter?
1. Keine philosophischen Diskussionen
Seit der Verwaltungsrat der Sika im Dezember 2014 erstmals angekündigt hat, er wolle die geplante Kontrollübernahme durch Saint-Gobain verhindern, wurde in der Presse viel analysiert. Darf eine Firma so mit ihren Aktionären umspringen? Was sind die grundlegenden Rechte und Pflichten eines Ankeraktionärs? Wie gut oder wie schlecht wäre es für Sika, wenn sie an Saint-Gobain verkauft würde? Und ist es unfair, wenn die Minderheitsaktionäre anders behandelt werden als die Besitzerfamilie? Wichtig fürs Verständnis des jüngsten Entscheids ist, dass solche Fragen für das Gericht ohne Bedeutung sind. Relevant ist einzig die Frage: Hat die Firma entsprechend den Kompetenzen gehandelt, die ihr rechtmässig zustehen? Oder hat sie ihre Kompetenzen überschritten und die Familie unzulässig in ihren Rechten eingeschränkt?
2. Der springende Punkt bei der Vinkulierung
Der Grund, dass solche betriebswirtschaftlichen und philosophischen Fragen keine Rolle spielen, liegt in den Firmenstatuten der Sika. Diese beinhalten einen Absatz, in dem es um die so genannte Vinkulierung geht – also um die Möglichkeit, einem bestimmten Halter von Namenaktien (das sind die Aktien mit erhöhter Stimmkraft, die der Besitzerfamilie ihre Kontrollmehrheit sichern) den vollen Eintrag ins Aktienbuch zu verwehren und somit dessen Stimmkraft zu beschneiden. Gemäss den Firmenstatuten der Sika kann der Verwaltungsrat dieses Recht ausüben, es braucht dazu nicht einmal eine besondere Begründung. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob eine solche Praxis grundsätzlich «okay» ist. Der springende Punkt ist die Anwendbarkeit: Ist die Vinkulierung auch im speziellen Fall der Saint-Gobain rechtens?
3. Direkter vs. indirekter Aktienverkauf
Dass diese Frage überhaupt von einem Gericht geklärt werden muss, liegt an der Formulierung der so genannten Vinkulierungsklausel in den Firmenstatuten. Diese Klausel findet nämlich wörtlich nur dann Anwendung, wenn ein bisheriger Aktionär seine Namenaktien an einen neuen Aktionär verkauft – zum Beispiel an die Person X. Der Verwaltungsrat hat in diesem Fall das Recht, den Eintrag von X ins Aktienregister auf 5 Prozent aller Stimmrechtsaktien zu beschränken, falls X eine grössere Beteiligung an der Sika erwirbt. Im vorliegenden Fall sollen aber nicht direkt Sika-Aktien verkauft werden. Denn: die Familie Burkard hält ihre Anteile an Sika über einen Pool, die Schenker-Winkler Holding (SWH). Diese Holding wollen die Burkards nun an Saint-Gobain verkaufen. Saint-Gobain besässe dann die SWH, und könnte damit die Sika indirekt kontrollieren. Dies, ohne sich selbst als neuen Eigentümer der Namenaktien ins Register eintragen zu müssen.
4. Wortwörtliche vs. sinngemässe Auslegung
Das Kantonsgericht Zug hält in seinem Urteil fest, dass die Familie Burkard eigentlich Recht erhalten würde – wenn man die Statuten der Sika nur wortwörtlich auslegen würde. Denn: Die Vinkulierung ist gemäss der erwähnten Statutenbestimmung auf einen indirekten Verkauf streng genommen nicht anwendbar. Gleichzeitig sagen die Richter aber, dass eine rein wortlautbezogene Auslegung der Statuten in diesem Punkt nicht genügt. Sie begründen dies insbesondere mit dem Sinn und Zweck der hier zur Diskussion stehenden Vinkulierungsbestimmung. Im Fachjargon würde man sagen: Es geht den Richtern um eine teleologische Auslegung der Bestimmung. Der Aktienrechts- und Übernahmeexperte Martin Weber von der Zürcher Kanzlei Schellenberg Wittmer bezeichnet diesen Entscheid als «mutig, aber in sich schlüssig». Es gebe gute Gründe, im vorliegenden Fall eine wirtschaftliche Betrachtungsweise anzuwenden. Sprich, durch die SWH hindurchzusehen und die Transaktion als das zu betrachten, was sie tatsächlich ist: als Verkauf eines Kontrollpakets vom bisherigen Ankeraktionär (den Burkards) an einen neuen kontrollierenden Aktionär (Saint-Gobain).
5. Geschichte und Gegenwart
Eine weitere Konfliktlinie im Rechtsstreit verläuft entlang der Zeitachse. Was zählt mehr: Die bisherige Praxis, wonach die Besitzerfamilie Burkard mit ihrer Stimmenmehrheit stets die volle Kontrolle hatte? Oder die Tatsache, dass Publikumsaktionäre bei der Sika aufgrund der Statuten davon ausgehen konnten, vor einer feindlichen Übernahme durch einen neuen, nicht genehmen Ankeraktionär geschützt zu sein? Wie der Anwalt Urs Suter von der Zürcher Kanzlei Suter Howald meint, hat das Zuger Kantonsgericht in seinem Urteil auffällig oft die Perspektive des Publikumsaktionärs in der Gegenwart eingenommen. «Der Gedanke der Selbständigkeit und des Schutzes der Minderheitsaktionäre wurde hoch gewichtet», sagt er. Der Sinn und Zweck der Vinkulierungsbestimmungen wurde durch das Gericht also mehrheitlich aus heutiger Perspektive betrachtet: Nicht das ursprüngliche Verständnis der Statutensetzer sei massgebend, sondern, «was der typische, sorgfältige Publikumsaktionär heute nach Treu und Glauben darunter verstehen darf und muss», wie es an einer Stelle heisst.
6. Die nächsten Instanzen
Saint-Gobain und die Burkards haben bereits angekündigt, das Verfahren an die nächste Instanz weiterzuziehen. Demnach wird sich als nächstes das Obergericht mit dem Fall auseinandersetzen, eventuell sogar das Bundesgericht. Laut den befragten Juristen ist es durchaus möglich, dass diese Instanzen zu einem anderen Schluss kommen. «Das Urteil des Kantonsgerichts ist ausführlich und sorgfältig, doch es bietet auch Angriffsflächen», sagt Martin Weber. Er schätzt die Chancen der Sika gegenüber den Klägern dabei leicht höher ein (60-40) als Urs Suter (50-50). Gemäss den Juristen wird es in diesen Verfahren weniger auf einzelne Argumentationslinien im Detail ankommen als auf die Grundsatzfrage: Zählt der nackte Buchstabe, oder zählt der Gedanke, der hinter diesen Buchstaben steht, wenn man sie aus heutiger Warte interpretiert? Bis zu einem abschliessenden Urteil darüber dürfte es noch zwei Jahre dauern.
Hier geht es zum Dossier der gesammelten Artikel in der «Handelszeitung» zum Fall Sika.