«Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk», ruft sie mit stummen Lippen. «Gebt mir eure müden, eure armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten; Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen, hoch halt' ich mein Licht am goldenen Tore!» – Emma Lazarus, The New Colossus
Dieses Zitat der amerikanischen Dichterin Emma Lazarus steht am Fusse der Freiheitsstatue im Hafen von New York. Es diente Millionen von Menschen als Sinnbild für den «American Dream». Einmal im Land, so glaubten viele, die über den Ozean in die Neue Welt einreisten, wartet unabhängig von bescheidenen Anfängen eine Welt voller Chancen. Der American Dream versprach Freiheit: Erfolg solle nicht vom sozialen Status der Eltern abhängen, allen Menschen sollen die gleichen Aufstiegschancen besitzen.
Wie steht es heute um diesen amerikanischen Traum? Die Frage beschäftigt seit der Wahl von Donald Trump zum nächsten Präsidenten der USA nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Wissenschaft. Raj Chetty, Nathaniel Hendren, Patrick Kline und Emmanuel Saez, vier Ökonomen von den Universitäten Harvard und Berkeley, haben dazu bereits im Jahr 2014 eine Aufsehen erregende Studie publiziert (hier ein Set von Vorlesungsslides und hier ein von den Autoren verfasster Artikel). Herrscht in den USA wirklich Chancengleichheit?
Der ernüchternde Vergleich zwischen Eltern und Kindern
Die Studie kommt zu einem ernüchternden Schluss. Die Autoren zeigen, dass Aufstiegsmöglichkeiten zwischen den Generationen in den USA geringer sind als vielfach angenommen. So liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus einer Familie aus dem untersten Einkommensfünftel im erwachsenen Alter ins oberste Einkommensfünftel gelangen, bei 7,5 Prozent. In Kanada liegt diese Chance bei 13,4 Prozent, in Dänemark liegt sie bei 11,4 Prozent.
Die Autoren nutzen für ihre Untersuchung Informationen über 40 Millionen Kinder und den dazugehörenden elterlichen Steuerdaten für den Zeitraum 1996 bis 2012. Dabei wird das Einkommen der Eltern, wenn ihre Kinder zwischen 15 und 20 Jahre alt sind, mit demjenigen der Kinder verglichen, wenn diese das 30. Lebensjahr erreichen. Jedes Kind im Alter von 16 Jahren wird zudem einem geografischen Gebiet (einer Pendlerzone) zugeordnet. Der Fokus liegt dabei auf den Kindern aus ärmeren Haushalten mit einem Einkommen unter 28'800 Dollar. Die Gebiete werden sodann nach dem Grad der dort vorherrschenden sozialen Mobilität rangiert.
In dieser Rangliste zeigen sich erhebliche Unterschiede. Kinder, die in Städten mit einer hohen Mobilität aufgewachsen sind, wie etwa Salt Lake City, erreichen ab ihrem 30. bis 32. Lebensjahr ein Einkommen, das in der Einkommensverteilung um 10 Prozentpunkte höher liegt als das Einkommen von Kindern aus Regionen mit tiefer Mobilität. So können Kinder, welche in den obersten 10 Prozent der Pendlerzonen mit der höchsten sozialen Mobilität aufwachsen, mit 30 Jahren ein Jahreseinkommen von mehr als 35'000 Dollar erwarten. Dagegen können Kinder aus den untersten 10 Prozent der Gebiete mit der niedrigsten sozialen Mobilität nicht mehr als 22'900 Dollar erreichen.
Wo der American Dream noch lebt – und wo nicht
Welche regionalen Unterschiede bestehen innerhalb der Vereinigten Staaten konkret? Die Aufstiegschancen sind im Präriegebiet des Westens am höchsten und im Südosten des Landes am niedrigsten. Die Westküste und der Nordosten weisen dagegen einen hohen Grad an sozialer Mobilität auf. Betrachtet man die 50 grössten Pendlerzonen, dann sind die Gegensätze zwischen Salt Lake City und Charlotte am grössten, wobei diese beiden Städte an entgegengesetzten Enden des Kontinents liegen.
Die geografische Distanz ist allerdings nicht massgebend für das Ergebnis. So liegt zum Beispiel Pittsburgh in Pennsylvania auf Rang 2 und Cleveland in Ohio auf Rang 40 – zwei Städte, die nur 216 Kilometer auseinanderliegen. Im Durchschnitt weisen städtische Gebiete ein tieferes Mass an Aufstiegsmöglichkeiten zwischen Generationen auf als ländliche Gebiete.
Prägend für die Aufstiegschancen eines Individuums sind Faktoren, welche bereits vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt weitgehend festgezurrt sind. Der soziale Aufstieg korreliert stark mit Faktoren wie Hochschulbesuchsquoten, Qualität der besuchten Hochschule oder dem Anteil jugendlicher Eltern, die noch über ein langes Arbeitsleben Einkommen verdienen können.
Von allen 30-Jährigen leben 38 Prozent an einem anderen Ort als dort, wo sie aufgewachsen sind. Trotz dieser hohen geografischen Mobilität sind die Unterschiede im Einkommen der Kinder weiterhin abhängig von lange nachwirkenden Faktoren, welche bereits vorhanden sind, bevor ein Kind das Elternhaus verlässt, eine Hochschule besucht oder in den Arbeitsmarkt eintritt.
Der fatale Einfluss der Geografie aufs Individuum
Die Frage ist, welche weiteren Faktoren die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten besonders stark beeinflussen. In ihrer Studie identifizieren die Forscher fünf Faktoren, welche die Aufstiegschancen mit bestimmen: Segregation, Ungleichheit, Schulqualität, Sozialkapital und Familienstruktur. Diese erklären 76 Prozent der Unterschiede in der sozialen Mobilität zwischen den einzelnen Pendlerzonen.
In Gebieten mit einem hohen Anteil an Afroamerikanern haben sowohl die schwarze als auch die weisse Bevölkerung niedrige Aufstiegschancen, beeinflusst durch die vielfach mässige Qualität der dortigen sozialen Einrichtungen. Je weiter die Armen von der Mittelklasse und den Reichen leben, desto grösser ist der negative Einfluss auf die sozialen Aufstiegschancen des Einzelnen. Ein mögliches Mass für diese Segregation ist die benötigte Zeit für den Weg zwischen Wohn- und Arbeitsort. Bewohner von Gebieten mit geringen Aufstiegschancen haben typischerweise lange Arbeitswege und sie verfügen vielfach über nur einfache öffentliche Verkehrsinfrastrukturen.
Regionen mit weniger Aufstiegschancen haben oft eine kleine Mittelschicht und weisen einen höheren Grad an Einkommensungleichheit auf. Die Studie stellt fest, dass die Grösse des Mittelstands, gemessen an der Differenz zwischen dem obersten und untersten Viertel der Einkommensverteilung, besonders wichtig ist. Ob viele Superreiche in einem Gebiet wohnen, ist weniger relevant. Nicht die Einkommensungleichheit an sich verringert die Aufstiegschancen, sondern vor allem jene Faktoren, die den Mittelstand aushöhlen.
Bessere schulische Leistungen und geringe Schulabbruchsquoten fördern den sozialen Aufstieg. Typischerweise sind die Aufstiegschancen höher in Pendlerzonen mit hoher Mobilität, in Gebieten mit hohen Wahlbeteiligungen und in Gemeinden mit einem hohen religiösen Bewusstsein. Schliesslich spielen auch stabile Familienverhältnisse eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Kinder, insbesondere bevor diese in die Arbeitswelt eintreten. Hält man alle anderen Faktoren konstant, dann haben Kinder eines alleinerziehenden Elternteils geringere Aufstiegschancen. Das gilt auch für die gesamte Gemeinschaft. Ein höherer Anteil an Kindern, welche von einem alleinerziehenden Elternteil aufgezogen werden, beeinflusst die Aufstiegschancen in der Region negativ.
Margaret Davenport ist PhD-Studentin in Economics & Finance an der Universität St. Gallen. Mit der Initiative «Next Generation» ermutigt das Wirtschaftspolitische Zentrum der Universität St. Gallen ihre Nachwuchstalente, die Öffentlichkeit über Erkenntnisse der Wissenschaft zu informieren. Die besten Studierenden fassen wichtige Ergebnisse ausgewählter Publikationen in Fachzeitschriften zusammen.