Die fetten Jahre sind vorbei. Dies zeigen die jüngsten Zahlen des Staatssekretariats für Migration. Die Zuwanderung ist zurückgegangen; innerhalb von zwei Jahren sank sie per Saldo von 80 000 auf gut 60 000 Personen. Es ist der niedrigste Wert seit der Einführung der vollen Personenfreizügigkeit mit der EU vor zehn Jahren.
Anstieg und Abflachung – was sind die Gründe? Einen ersten Hinweis geben die zwei Komponenten der Migrationszahlen: die Bruttoeinwanderung und die Auswanderung. Die Schweiz hat 2016 erstens an Attraktivität verloren. Gut die Hälfte des Rückgangs der letzten Jahre lässt sich auf die verminderte Einwanderung zurückführen. Zweitens sind mehr Leute ausgewandert. Fast 78 000 Personen verliessen 2016 das Land. Das ist die höchste im neuen Jahrtausend überhaupt verzeichnete Auswanderungszahl.
Bereits diese grobe Aufteilung macht also deutlich, dass die Migration keine Einbahnstrasse ist, sondern eine Überlagerung diverser Trends und Ursachen. Doch wie funktioniert die Mechanik dahinter? Und wie geht es weiter in den kommenden Jahren? Drei Zusammenhänge gelten als gesichert.
1. Die Zuwanderung schwankt mit der Konjunktur
Bereits in den 1960er, 70er und 80er Jahren dienten Arbeitsmigranten der Wirtschaft als Manövriermasse. In der Hochkonjunktur wurden viele Leute geholt, im Abschwung wenige. Mit der schrittweisen Einführung der Personenfreizügigkeit ab 2002 hat sich dies nicht verändert.
In den Jahren 2013 und 2014, als es in der Schweiz deutlich besser lief als in Europa, ging die jährliche Einwanderung hoch – um etwa 15 000 Personen. Seit dem Frankenschock sank sie um rund 10 000 Personen. «Die hiesige Konjunktur ist der wichtigste Erklärungsfaktor für die Zuwanderung», sagt George Sheldon, Arbeitsmarktökonom an der Universität Basel.
Eine Aufschlüsselung nach Einwanderungsgründen zeigt, dass die Erwerbszuwanderung aus EU und Efta für den grössten Teil der Fluktuationen seit 2008 verantwortlich ist. Dagegen verläuft die Immigration wegen Familiennachzug, Flüchtlingsaufnahme oder Studienaufenthalt entweder stetig oder ist quantitativ wenig bedeutsam für die Entwicklung der ständigen Wohnbevölkerung.
Laut Ökonom Michael Siegenthaler von der KOF bestimmt die hiesige Konjunktur die Höhe der Zuwanderung. Die unterschiedliche Konjunktur in den europäischen Ländern erklärt dagegen, wie sich die Zuwanderung national zusammensetzt. «In den letzten zwei Jahren hat sich die Wirtschaftslage in Portugal und Spanien verbessert», sagt er. «Entsprechend machen Portugiesen und Spanier heute einen kleineren Anteil an den Zuwanderern aus.»
Statistiken illustrieren diesen Zusammenhang. In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Parallel dazu hat auch die Einwanderung von Deutschen in die Schweiz abgenommen, und zwar um rund 7000 auf noch 17 000 Personen. Weil gleichzeitig jedes Jahr etwa 15 000 Deutsche die Schweiz verlassen, ist der Zuwanderungssaldo 2016 praktisch auf null gesunken.
Beständiger ist der Anteil von Franzosen. In den letzten vier Jahren wanderten jeweils gut 12 000 Menschen aus Frankreich ein. Die Auswanderung fluktuierte schwach um etwa 7000 Personen. So lag der Migrationssaldo konstant bei 5000 Personen. Das ergibt ökonomisch Sinn: Frankreich steckt in einer langfristigen Wachstumsschwäche, verzeichnet aber keine grösseren Konjunkturschwankungen von Jahr zu Jahr. Ähnlich ist die Situation in Italien.
Zuletzt sind sogar wieder etwas mehr Italiener und Franzosen in ihre Heimat zurückgekehrt. Dies dürfte mit dem generellen Anstieg der Rückwanderungen zusammenhängen, den die Schweiz seit ein paar Jahren als Spätfolge der Personenfreizügigkeit verzeichnet. Bei deren Einführung wurde nämlich die Bewilligungspraxis verändert.
«Früher erhielten Zuwanderer standardmässig eine einjährige Aufenthaltsbewilligung», sagt George Sheldon. «Mit dem Freizügigkeitsabkommen wurde die normale Dauer auf fünf Jahre verlängert.» Seit der Umstellung hinken die Auswanderungs- den Einwanderungszahlen also hinterher. So kam es zum Überschiessen der Zuwanderungssaldi nach 2008 – und auch zum jüngsten Rückgang.
2. Die Schweiz bleibt ein Einwanderungsland
Der temporäre Effekt dürfte nun aber auslaufen, meint Michael Siegenthaler. So, dass sich ab 2017 – bei gleichmässiger Konjunktur – eine Zuwanderung von vorerst rund 60 000 Personen einstellen dürfte. Mit einem ähnlichen Niveau rechnet auch die Ökonomin Sara Carnazzi von der Credit Suisse. «Die Zuwanderung sollte sich in den kommenden Jahren zwischen 50 000 und 60 000 Personen einpendeln», sagt sie. Wegen der Flüchtlingswelle von 2015 könnte es ihr zufolge sein, dass der Saldo 2017 in der oberen Hälfte dieser Spanne liegen wird. «Einige Asylsuchende dürften dieses Jahr eine definitive Aufenthaltserlaubnis erhalten und würden somit neu zur ständigen Bevölkerung gezählt.»
60 000 Personen: Diese Zahl entspräche genau dem Wanderungssaldo, den das Bundesamt für Statistik in seinem «mittleren» Bevölkerungsszenario für die Jahre bis 2030 postuliert (im «niedrigen» und im «hohen» Szenario weicht der Saldo um jeweils 20 000 Personen nach unten beziehungsweise nach oben davon ab). Laut dem Statistiker Raymond Kohli ist denkbar, dass die Zuwanderung im kommenden Jahr den Saldo des mittleren Szenarios kurzfristig unterschiesst.
So oder so ist für Experten klar, dass die Schweiz grundsätzlich ein Einwanderungsland bleibt, sofern die Politik keinen drastischen Regimewechsel vollzieht. Das hat einen simplen Grund: Die Schweiz ist wirtschaftlich gut unterwegs; es werden mehr Stellen geschaffen, als sich durch die inländische Erwerbsbevölkerung besetzen lassen. Solange Firmen hierzulande besser wachsen können als im Ausland, werden also stets mehrere zehntausend Personen pro Jahr mehr in die Schweiz kommen als sie verlassen.
3. Zuwanderung ist von der Nachfrage getrieben
Im Rückblick zeigt sich, dass dies nicht immer so war. Mitte der 1990er Jahre sank die Zuwanderung im Laufe der hiesigen Wirtschaftskrise praktisch auf null. Als die Rezession dann vorüber war, begann auch die Zuwanderung wieder zu steigen – schon vor Beginn der Personenfreizügigkeit, notabene.
Was bereits damals galt, gilt heute nach wie vor, sagen Forscher: Die Zuwanderung in die Schweiz wird von der Nachfrage getrieben. «Es ist eine Pull- und keine Push-Situation», sagt George Sheldon. Einheimische Arbeitskräfte würden durch die Zuwanderer deshalb nicht verdrängt, sondern ergänzt. «Es gibt keine einzige Studie, die das Gegenteil beweist.» Hiesige Firmen bleiben laut Sheldon auch auf Zuwanderer angewiesen, weil hier zu wenig Naturwissenschafter und Techniker ausgebildet werden.
Gemäss dem Observatoriumsbericht des Bundes vom letzten Sommer ist der Anteil der Zuwanderer mit Tertiärabschluss zuletzt etwas zurückgegangen. Dies wird darauf zurückgeführt, dass das generelle Beschäftigungswachstum stärker auf Branchen mit unterdurchschnittlichen Lohnniveaus konzentriert war – etwa das Gesundheitswesen.
Sollten aber die Finanz-, Uhren-, Maschinen- oder Elektroindustrie, die unter dem makroökonomischen Umfeld gelitten haben, nun wieder besser laufen, so dürfte sich dies laut CS-Ökonomin Sara Carnazzi auch in der Zuwanderungsstruktur niederschlagen. «Wenn die Beschäftigung in wertschöpfungsstarken Branchen wieder stärker wächst, wird auch die Qualifikation der Zuwanderer tendenziell steigen.»