Nach seinen Wahlsiegen will Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nun liefern: Umfassende Reformen sollen den Jobmarkt in der zweitgrössten Volkswirtschaft der Euro-Zone auf Vordermann bringen. Berlin erwartet vom Nachbarn im Westen schon lange tiefgreifende Massnahmen – demnach hängt davon langfristig sogar das Überleben des Euro ab. Und erst mit mehr Reformwillen in Frankreich scheint Deutschland geneigt, in anderen Bereichen – etwa bei der geplanten Bankenunion – enger zusammenzuarbeiten.
 
Geht es um Jobreformen, verweisen deutsche Politiker und Ökonomen im gleichen Atemzug gerne auf die Errungenschaften in der Heimat: Erst die im Jahr 2003 gestarteten Hartz-IV-Reformen sorgten für das bis heute anhaltende deutsche Jobwunder, heisst es dann oft. Gemäss einer in dieser Woche veröffentlichten Studie der «FAZ» schreiben sogar fast 90 Prozent der deutschen Ökonomieprofessoren diesen Reformen eine starke bis sehr starke Wirkung auf die günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt zu. Ein bemerkenswerter Konsens, der nicht zuletzt darin begründet sein dürfte, dass deutsche Wirtschaftswissenschaftler das theoretische Grundgerüst für die Reformen lieferten und an ihnen mitdokterten.

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Bei Jobreformen gilt: «Timing ist alles»

Tatsächlich befindet sich Deutschland heute in einer ausgesprochen komfortablen Position: In manchen Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bayern herrscht bereits Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosigkeit liegt gemäss Eurostat bei gerade mal 3,9 Prozent – nirgends sonst in der Euro-Zone ist diese Zahl kleiner. Selbst die Schweiz hat Mühe, da mitzuhalten. Zum Vergleich: In Frankreich liegt die Quote, die seit Jahresbeginn weitgehend stagniert, noch immer bei knapp 10 Prozent.
 
Und doch scheint der deutsche Stolz ob der Hartz-Reformen etwas fehl am Platz. Die Effekte der Agenda 2010 werden verklärt. Darauf deutet nun auch eine Studie des in London arbeitenden deutschen Wirtschaftswissenschaftlers Christian Odendahl. Der Chefökonom des Centre for European Reform hat in einem 23-seitigen Paper die Effekte der Reformen untersucht. Das Urteil fällt ernüchternd aus. Keine ökonomische Theorie könne vorhersagen, dass Reformen, die nur Teile der Erwerbsbevölkerung betreffen, der einzige oder Hauptgrund für einen solchen Erfolg sind, schreibt er.
 
Vielmehr scheint eine Vielzahl an Faktoren eine Rolle gespielt haben, von denen das Land bis heute profitiert. «Timing ist alles», schreibt Odendahl. So setzte gerade mit dem Start der Reformen der Aufschwung in den Schwellenländern ein und die Krise am deutschen Immobilienmarkt, der nach der Wiedervereinigung überhitzte, fand ihren Boden. Auch verständigten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter angesichts der zunehmenden Globalisierung in dieser Zeit darauf, eher Jobs zu sichern als allzu hohe Lohnabschlüsse zu verabschieden. Erst diese umsichtige Zusammenarbeit sorgte dafür, dass in der Finanzkrise nur wenige Arbeitskräfte ihren Job verloren, argumentiert seit Jahren auch Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Institut IMK.   

«Besser flankieren als in Deutschland»

Dass Deutschlands Erfolg weniger dem Geschick des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder, sondern auch einer gehörigen Portion Glück zu verdanken ist, scheint für Odendahl nicht von der Hand zu weisen: Denn Berlin bezog seinerzeit nicht ausreichend die makroökonomische Lage ins Kalkül ein. Damals galt Deutschland als «kranker Mann Europas». Die Zinsen der Europäischen Zentralbank waren zu hoch, angesichts eines Haushaltsdefizits von 4 Prozent der Wirtschaftsleistung gab es keinen Spielraum für stabilisierende Ausgaben. «Das hätte nach hinten losgehen können», so Odendahl.
 
Sein Rat an Frankreichs Regierung also ist klar: Der Arbeitsmarkt sollte nicht reformiert werden, wenn die Regierung gleichzeitig die öffentlichen Finanzen in Ordnung bringen will. Diese Gefahr ist aktuell übrigens sehr real: Macron will das Haushaltsdefizit in diesem Jahr von veranschlagt 3,2 Prozent auf unter 3 Prozent drücken und wohl noch in diesem Sommer per Dekrete erste Jobreformen auf den Weg bringen. «Ich glaube, Macron und seine Berater wissen um die Probleme der Hartz Reformen, und dass man sie besser flankieren muss, als Deutschland das getan hat«, sagt Odendahl.

Denn dass nicht alles glatt lief, räumt selbst Alt-Reformator Gerhard Schröder ein: Die Agenda 2010 brachte auch viele Verlierer hervor. Odendahl verweist in der Studie etwa auf das gestiegene Armutsrisiko in Deutschland, das mit 16 Prozent heute deutlich höher als noch in den 1990er Jahren sei und die sinkenden Löhne von Geringverdienern ab Mitte der 2000er Jahre (siehe Grafiken rechts – vergrössern: per Doppelklick).

Odendahls Paper ist auch deshalb sehr bemerkenswert, weil sie nicht nur für Frankreich ein hochaktuelles Thema aufgreift: Im September stehen in Deutschland Bundestagswahlen an. Während Kanzlerin Angela Merkel auf ein «weiter so» setzt, zieht Herausforderer Martin Schulz mit dem Slogan «Zeit für mehr Gerechtigkeit» durchs Land und will die Agenda 2010 teilweise zurückdrehen. Vielen deutschen Ökonomen ist das ein Dorn im Auge. Dass aber auch sie über das Ziel hinausschiessen können, zeigt gerade auch der Streit um Reformen in Deutschland: So forderte Vorzeigeökonom Hans-Werner Sinn selbst noch Ende 2005, als die Konjunktur an Fahrt aufnahm und keine Reformen mehr folgten: «Wenn wir Konsum und Wachstum ankurbeln wollen, brauchen wir flexiblere Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt.» Der Rest ist bekannt.