Die schwierige finanzielle Zukunft der Schweizer Altersvorsorge ist allgemein bekannt. Die steigende Lebenserwartung zusammen mit tiefen Zinserträgen auf das Alterskapital lassen die Defizite wachsen. Mit der Ablehnung der Rentenform 2020 im September 2017 dürfte sich die Diskussion verschärfen, ob das Rentenalter in der Schweiz angehoben werden muss.
Kaum thematisiert sind dabei die Folgen der Pensionierung für das Gesundheitswesen: Macht die Pensionierung die Menschen gesünder oder kränker? Diese Frage untersuchen Norma B. Coe vom Boston College und Gema Zamarro von der Rand Corporation mit Querschnittsdaten aus dem Jahr 2004 für elf europäische Länder.
Zweierlei Ergebnisse
Die Pensionierung ist ein bedeutender Einschnitt im Erwachsenenleben. Während die einen sich auf das Ende von beruflichem Stress und körperlicher Belastung freuen, fällt anderen die Neuorientierung ohne vorgegebene Tagesstruktur und Einbindung in die aktive Arbeitswelt schwer. In der bisherigen Forschung sind die Auswirkungen der Pensionierung auf die Gesundheit noch nicht verlässlich geklärt: Es liegen Ergebnisse mit positiven und negativen Auswirkungen vor.
Coe und Zamarro untersuchen daher erneut, wie sich die Pensionierung auf die subjektive und objektive Gesundheit von Europäern auswirkt. Hierfür werteten die Wissenschaftler Umfrage-Daten aus dem Jahr 2004 aus und schätzen durchschnittliche Effekte für die folgenden elf europäischen Länder: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Holland, Italien, Österreich, Schweden, Schweiz und Spanien.
Das Projekt Next Generation informiert über aktuelle Forschungsergebnisse zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen und über die Arbeit der Studierenden in den volkswirtschaftlichen Lehrprogrammen der Universität St. Gallen.
Diesmal: Sabrina Stadelmann über: Norma B. Coe und Gema Zamarro (2011), «Retirement effects on health in Europe», Journal of Health Economics 30, 77-86.
Herausgeber Next Generation: Prof. Christian Keuschnigg.
Um Rückschlüsse auf die Gesundheitsfolgen der Pensionierung zu ziehen, reicht es nicht, einfach den Gesundheitszustand der Pensionierten mit jenem der noch aktiven Personen zu vergleichen. Auf der einen Seite kann die Pensionierung die Gesundheit beeinflussen. Umgekehrt dürfte aber die Wahl des Pensionierungszeitpunkts stark vom Gesundheitszustand abhängen. A priori ist die Richtung dieses Zusammenhangs, also was Ursache und was Wirkung ist, keinesfalls eindeutig. Da ein höherer Wohlstand im Durchschnitt mit einer besseren Gesundheit einhergeht, könnten sich gerade die gesünderen Menschen eher frühpensionieren lassen.
Schweizer zögern bei Pensionierung
Coe und Zamarro lösen das Problem der beidseitigen Wechselbeziehung zwischen Pensionierungszeitpunkt und Gesundheit, indem sie den Gesundheitszustand nur von jenen Personen vergleichen, welche leicht jünger beziehungsweise leicht älter als das gesetzlich vorgegebene Rentenalter sind. Das gesetzliche Rentenalter wird für das ganze Land bestimmt und kann daher weder vom individuellen Gesundheitszustand noch von der persönlichen Ruhestandsentscheidung beeinflusst werden. Auf diesem Weg können sie den tatsächlichen kausalen Effekt der Pensionierung auf die Gesundheit isolieren.
Personen in der Nähe des offiziellen Rentenalters zu vergleichen macht allerdings nur dann Sinn, wenn das gesetzlich vorgegebene Rentenalter die Personen auch veranlasst, wirklich in Pension zu gehen. Die Mehrheit aller Personen richtet ihren Pensionierungszeitpunkt tatsächlich nach dem gesetzlichen Pensionsalter aus. In den meisten Ländern lassen sich mehr als 90 Prozent der Bevölkerung spätestens zum gesetzlich vorgegebenen Alter pensionieren. Das gesetzliche Rentenalter liefert daher eine relativ genaue Vorhersage für das Pensionierungsverhalten.
Nur die Schweizer scheinen gerne deutlich länger arbeiten zu wollen, als das Gesetz ihnen vorschreibt: lediglich 73 Prozent der Schweizer, die das vorgeschriebene Rentenalter von 65 Jahren überschritten haben, sind pensioniert.
Subjektiv und objektiv
In ihrer Analyse kommen die Wissenschaftler zu dem zentralen Ergebnis, dass die Pensionierung zu einer Steigerung der Gesundheit führt. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine nur durchschnittliche, schlechte oder sehr schlechte Gesundheit meldet, reduziert sich nach der Pensionierung um 35 Prozent. Die Wissenschaftler messen die Gesundheit jedoch nicht nur nach der befragten Selbsteinschätzung, sondern auch mit einem Gesundheitsindex, der objektive Gesundheitskennzahlen beinhaltet, etwa Übergewicht oder Griffstärke. Die Pensionierung führt auch zu einer signifikanten Verbesserung des Gesundheitsindexes.
Allerdings werden die Gesundheitsfolgen nur zum Zeitpunkt der Pensionierung gemessen. Eine Pensionierung kann die Gesundheit aber nicht nur in der kurzen Frist, sondern auch über längere Zeit hinweg beeinflussen. In diesem Fall unterschätzt der gemessene Effekt die tatsächlichen langfristigen Gesundheitsfolgen einer Pensionierung.
Die Grafik veranschaulicht den positiven Effekt der Pensionierung auf die Gesundheitswahrnehmung. Sie stellt das Alter der untersuchten Personen der gesundheitlichen Selbsteinschätzung gegenüber. Die durchgezogene Linie betrifft Dänemark, welches kein gesetzliches Frühpensionierungsalter kennt. Die anderen Länder sind nach ihrem gesetzlichen Frühpensionierungsalter (zum Zeitpunkt der Untersuchung) gruppiert.
In Schweden beispielsweise liegt diese Altersschwelle bei 61 Jahren, während das normale Pensionierungsalter 65 Jahre beträgt. Mit Überschreiten des Frühpensionierungsalters geht der Anteil schlechter Gesundheitsangaben gegenüber dem Vorjahr markant zurück. Diese Beobachtung trifft zum Beispiel auch für die Italiener und Griechen zu, die sich bereits mit 57 Jahren vorzeitig pensionieren lassen können. Mit Erreichen dieser Altersgrenze sind die schlechten Gesundheitsangaben deutlich geringer als im Jahr zuvor.
In Deutschland liegt das Frühpensionierungsalter bei 63, und auch dort ist die Gesundheitswahrnehmung plötzlich signifikant besser als vorher. Mit Erreichen der Altersschwelle für eine mögliche Frühpensionierung ist also eine deutliche Verbesserung der Gesundheitswahrnehmung erkennbar.
Ein Argument für Frühpensionierungen?
Die Wissenschaftler schlagen in ihrer Untersuchung eine Wohlfahrtsanalyse vor, welche die verschiedenen Kosten und Nutzen einer späteren oder vorzeitigen Pensionierung gegenüberstellen sollten. Der Nutzen liegt vorwiegend bei den Individuen, die sich nach einer Frühpensionierung merklich gesünder fühlen. Die Kosten fallen eindeutig im Pensionssystem an, weil die vorzeitig Pensionierten Leistungen beziehen und keine Beiträge mehr entrichten, obwohl sie nach ihrem Gesundheitszustand hätten länger arbeiten können.
Das Ergebnis von Coe und Zamarro legt jedoch nahe, dass Einsparungen im Gesundheitswesen möglich sein könnten, wenn sich nach der Pensionierung der Gesundheitszustand tatsächlich verbessert. Solche Auswirkungen auf die Kosten im Gesundheitswesen werden jedoch von Coe und Zamarro nicht untersucht.
Auch ist nicht klar, warum die Verbesserung des Gesundheitszustands eintritt. Es könnte sein, dass nach der Pensionierung mehr Zeit für gesundheitsfördernde Aktivitäten bleibt – von Sport über gesellschaftliche Aktivitäten bis hin zu einer bewussteren Ernährung. Auch mehr Schlaf und die Entlastung von beruflichem Stress könnten der Gesundheit förderlich sein.
Gegenteilige Effekte – wie Sinnentleerung, Verlust an Kontakten und Passivität – sind jedoch auch denkbar. Es bedarf weiterer Forschung, um die Beziehungen zwischen Arbeitsmarktaktivität, Gesundheitszustand und daraus entstehenden Folgen für die Gesundheitsausgaben zu quantifizieren.
Wie wirkt sich die Pensionierung auf die Gesundheit aus? Amerikanische Forscher massen die Selbsteinschätzung sowie gewisse Gesundheitsdaten von Pensionierten in mehreren europäischen Ländern – auch der Schweiz. Das Ergebnis war recht deutlich: Der Wechsel vom Berufs- ins Rentnerleben wirkt sich kurzfristig positiv aus. Auch zeigten die Personen deutlich positivere Werte, sobald sie an die Grenze einer möglichen Frühpensionierung gelangt waren.