Mit dem Universalismus ist es so eine Sache. Auf der einen Seite weisen wir allen Menschen dieselben Rechte zu: das Recht auf Freiheit, Eigentum und Sicherheit der Person, das Recht auf freie Meinungsäusserung, das Recht auf Selbstverwirklichung. Wir gehen davon aus, dass dies universale, gleichsam natürliche Ansprüche sind.

Auf der anderen Seite wehren wir uns gerade in den Sozialwissenschaften oft gegen naturalistische Menschenbilder. Die Auffassung, der Mensch sei über verschiedene Kulturen hinweg mit universellen Eigenschaften, Präferenzen und Ansprüchen ausgestattet, gilt als veraltete und ethnozentristische Ansicht. Was tun?

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Das krasseste Sozialexperiment der Geschichte

Am besten, man schaut sich die Sache an einem Beispiel an.

Genau dies haben Joachim Rudolf und Elisabeth Tester in ihrem neuen Buch «China – der nächste Horizont» gemacht. Der soeben im NZZ-Libro-Verlag erschienene Text ist eigentlich als «Kompass für Anleger und Unternehmer» konzipiert, die sich über Dinge wie A- und H-Aktien oder die Börsen von Shanghai und Shenzen informieren wollen. Daneben fand sich um Buch aber auch Platz für Beobachtungen abseits der Finanz- und Wirtschaftswelt.

Etwa zu den chinesischen Konsumgewohnheiten. Die Autoren ziehen die Diskussion anhand der Theorie von Abraham Maslow auf – einem US-amerikanischen Psychologen, der von 1908 bis 1970 lebte und mit der so genannten Bedürfnispyramide eines der bekanntesten Konzepte der Sozialwissenschaften geschaffen hat. Die Pyramide stipuliert eine stufenartige Hierarchie der Bedürfnisstufen, die mit Dingen wie Nahrung und Schlaf beginnt und in Motiven wie Kreativität und Selbstbestimmung gipfelt.

Was taugt die Maslow-Pyramide im chinesischen Kontext? Tester und Rudolf bemerken hierzu, dass die Handlungsmöglichkeiten der Chinesen im zwanzigsten Jahrhundert nach Kampagnen wie der Kulturrevolution drastisch eingeschränkt waren: Die kommunistische Regierung «nahm ihrer Bevölkerung alles weg, inklusive sozialer Gesellschaftsordnung und Nahrung». Unausgesprochenes Ziel von Mao Zedongs Nachfolgeregierungen sei dann gewesen, «der Bevölkerung die Erfüllung ihrer Bedürfnisse schrittweise wieder zu ermöglichen». Dazu ein Bild aus dem Buch:

Der grosse Vorsitzende hinterliess also gewissermassen einen reinen Tisch. Die Bedingungen für eines der krassesten Sozialexperimente der Geschichte schienen geschaffen: Wonach würden die Chinesen am Ende der Ära von Mao streben? Würden sie – ganz dem Maslow-Schema folgend – zuerst ihre Grundbedürnisse wie Essen und Schlafen, dann ihre Sicherheits- und schliesslich ihre Selbstverwirklichungsbedürfnisse stillen?

Zuerst das Bling-Bling, danach der Kühlschrank

Die Antwort ist nicht ganz einfach, zumal Peking nach wie vor viele Aktivitäten unterdrückt. Künstler werden auch vierzig Jahre nach Beginn der Öffnung kurzerhand ins Gefängnis gesteckt, wenn hoher Staatsbesuch ansteht. Aus ihren Beobachtungen ziehen Tester und Rudolf dennoch ein paar Schlüsse:

  • Die so genannten Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schutz und Sicherheit sind auch in China grundlegend.
  • Die Zugehörigkeit zu sozialen Strukturen (wie zu einer Firma) ist wichtiger als im Westen.
  • Fast noch wichtiger ist aber der Status innerhalb der Referenzgruppe (also etwa der Firma).

Diese Einstellungen führen laut den Autoren zu einer Prioritätenliste, die westlichen Beobachter merkwürdig erscheinen kann – etwa dann, wenn eine Büroangestellte sechs Monatslöhne ausgibt, um sich eine Luxushandtasche zu leisten. Tester und Rudolf interpretieren dies als Ausdruck des Strebens nach Status, als Experimentieren mit relativem Reichtum, als «Überspringen einer Stufe der Bedürfnishierarchie».

Offensichtlich halten sich die Chinesen im grossen Ganzen an die Theorie, weichen im Einzelnen aber davon ab. Spricht dies nun für oder gegen Maslow? Spricht es für oder gegen kulturellen Universalismus – und für oder gegen universale Rechte?

Individuelle Bedürfnisse und universale Rechte

Meine Gedanken dazu: Maslows Bedürfnisse taugen höchstens als Aufzählung, nicht als Hierarchie. Das Streben nach Prestige innerhalb einer Gruppe ist so tief im Menschen drin wie der Konsum materieller Güter – man kann diese beiden Dinge nicht trennen.

Auch Begriffe wie Selbstverwirklichung sind letztlich problematisch. Selbst in der Steinzeit fertigten die damaligen Höhlenbewohner kreative Wandmalereien an, obwohl sie in der dafür benötigten Zeit vermutlich andere, für ihre Entwicklungsstufe «angemessenere» Dinge hätten tun können.

Was ein menschliches Bedürfnis ist, wird immer und überall vom sozialen Kontext beeinflusst: eine Tatsache, die auch dieser Dokumentarfilm der BBC über die «sexuelle Revolution» eindrücklich zeigt. China ist ein riesiges Feld unerprobter Möglichkeiten; längst nicht alle Chinesen leben diese Möglichkeiten auf dieselbe Art aus.

Die grosse Frage ist, ob wir Dinge wie die Meinungsfreiheit trotz allem zu universalen Bedürfnissen, und folglich auch zum universalen Menschenrechten erklären können. Meine Antwort ist: Ja, wir sollten das tun. Und der Bevölkerung in Hong Kong, die dieses Recht derzeit in Gefahr sieht, zumindest rhetorischen Support zukommen lassen.