Wie hoch soll das Arbeitslosengeld ausfallen und wie lange soll es ausbezahlt werden? Ökonomen streiten sich gerne über diese sozialpolitische Frage. Einerseits führt eine Arbeitslosenversicherung (ALV) dazu, dass Arbeitslose weniger intensiv nach Stellen suchen und somit länger arbeitslos bleiben. Andererseits sollen Arbeitende mit der ALV vor Einkommensverlusten geschützt werden.
Eine Studie der Ökonomen Rafael Lalive, Camille Landais und Josef Zweimüller legt nahe, dass das Politikdilemma im Zusammenhang mit der ALV vielleicht gar nicht so relevant ist, wie Ökonomen immer geglaubt haben. Sie stellen fest, dass eine Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung den Arbeitsmarkt entlasten und zu positiven Nebeneffekten für die verbleibenden Jobsuchenden führen kann. Die ALV kann also ein Instrument sein, die vorübergehenden Härten eines besonderen Strukturwandels abzufedern.
Ein Experiment aus den neunziger Jahren
Die gängige ökonomische Theorie schreibt Arbeitslosenversicherungen eher negative Effekte zu. Sie geht davon aus, dass eine ALV den Anreiz zur Jobsuche mindert, die Dauer der Arbeitslosigkeit verlängert und damit selbst zu höherer Arbeitslosigkeit beiträgt. Wird die ALV ausgeweitet, dann bleibt das Einkommen in der Arbeitslosigkeit hoch – umso weniger können Arbeitslose gewinnen, wenn sie eine neue Beschäftigung aufnehmen. Die finanziellen Anreize zur Jobsuche nehmen ab. Auch die Anzahl offener hängt gemäss gängiger Theorie von der ALV ab. Eine grosszügige ALV mindert die Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Sie müssen höhere Löhne offerieren, damit sich das Jobsuchen und Arbeiten aus Sicht der Arbeitslosen lohnt. Höhere Löhne erschweren wiederum die Schaffung von Stellen, was unter dem Strich die Chancen von Arbeitslosen vermindert, eine passende Stelle zu finden.
In der Praxis ist die Sache allerdings komplizierter. Erstens zeigt sich, dass die Löhne nicht bemerkenswert steigen, wenn beispielsweise die Dauer der gewährten Arbeitslosenunterstützung verlängert wird. Die Bezahlung für die meisten Jobs ist bereits ausreichend hoch im Vergleich zum Arbeitslosenengeld. Zweitens beeinflusst eine Ausweitung der ALV auch die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Arbeitslose weniger intensiv nach Arbeit suchen und daher weniger Leute um gleich viele offene Stellen konkurrieren, dann wird die Stellensuche für die verbleibenden Arbeitssuchenden leichter.
In wirtschaftlich schwierigen Zeiten kann es daher eine sinnvolle Idee sein, besonders betroffenen Gruppen länger Arbeitslosengeld zu bezahlen. Dies ist die Erkenntnis der Ökonomen Rafael Lalive, Camille Landais und Josef Zweimüller. Sie haben in einer 2015 publizierten Studie empirisch untersucht, wie sich eine Verlängerung der Bezugsdauer der ALV auswirkt, wenn nur eine spezielle Gruppe von Arbeitnehmern Anspruch darauf hat. Konkret analysieren die Forscher ein regionales Programm der ALV in Österreich mit dem Namen REBP (Regional Extension Benefit Program).
Das Programm sollte die Arbeitsmarktfolgen eines regional konzentrierten wirtschaftlichen Einbruchs für besonders benachteiligte Gruppen lindern. Es hat von 1988 bis 1993 in 28 von etwa 100 österreichischen Bezirken die maximale Bezugsdauer von Taggeldern um drei Jahre angehoben, was einer erheblichen Verlängerung gegenüger der bis anhin geltenden maximalen Bezugsdauer von 52 Wochen (Arbeitslose über 50) beziehungsweise 39 Wochen (Arbeitslose zwischen 40 und 49) entspricht. Vom Programm profitierten ältere Arbeiter mit durchgehender Beschäftigung während der letzten 25 Jahre. Keinen Anspruch hatten dagegen jüngere Arbeitslose und solche mit zeitweiligen Arbeitsunterbrüchen in der Vergangenheit.
Dritte haben schneller einen Job gefunden
Wie ändern sich die Anreize zur Jobsuche und welche Folgen hat das Programm auf die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt? Um die Folgen der Reform zu ermitteln, haben die Wissenschaftler die Auswirkungen auf zwei konkurrierenden Gruppen von Arbeitssuchenden untersucht. Konkret verglichen sie Arbeitslose mit Wohnort in Bezirken, welche die Reform umsetzten, mit solchen in anderen Bezirken, in welchen die ALV unverändert blieb.
Das Programm hatte beachtliche Auswirkungen auf beide Gruppen. Arbeitslose, die in den Genuss einer längeren Unterstützung kamen, nahmen sich in ihren Anstrengungen zur Stellensuche deutlich zurück. Bei ihnen stieg in der Folge die Arbeitslosendauer im Durchschnitt um 43 Wochen, gegenüber einer durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit von 21 Wochen vor Einführung des Programms. Der Effekt liess sich so lange beobachten, wie auch die Reform in Kraft war – danach verschwand er wieder (Grafik links). Auf der anderen Seite haben die Wissenschaftler festgestellt, dass die nicht begünstigten Jobsuchenden markant von der Reform profitiert haben, weil der Rückzug der geförderten Arbeitslosen die Stellenkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt entschärft hat. Sie mussten im Durchschnitt 4 Wochen weniger lang suchen, bis sie einen passenden Job fanden. Das entspricht einer Reduktion der Arbeitslosendauer um 20 Prozent (Grafik rechts).
Über 50-Jährige haben profitiert
In der Untersuchung haben sich unterschiedliche Wirkungen je nach Altersklasse gezeigt. Von der Reform begünstigt wurden nur ältere Arbeitnehmer mit langer Beschäftigungsdauer. Entsprechend haben die Arbeitslosen über 50 Jahre, die nicht zum Programm zugelassen waren, die Folgen der Reform am stärksten zu spüren bekommen – und zwar auf positive Weise. Für sie verringerte sich die mittlere Dauer der Arbeitslosigkeit um 6 bis 9 Wochen. Jüngere Arbeitslose zwischen 46 und 49 Jahren, die ebenfalls nicht zum Programm zugelassen waren, erfuhren im Mittel bloss eine Reduktion der Suchdauer um 2 bis 3 Wochen.
Das österreichische Arbeitslosenprogramm der frühen neunziger Jahre ist ein Beispiel für eine Massnahme, die auf benachteiligte Gruppen zugeschnitten ist. Es zielt auf Personen, die in einzelnen Regionen von verschlechterten Wirtschaftsbedingungen besonders betroffen sind. Die Wissenschaftler ziehen aus ihrer Studie den Schluss, dass unter diesen Umständen eine temporäre Verlängerung der Bezugsdauer diese Gruppen Sinn machen kann. Es bringt wegen der positiven Auswirkungen auf dritte Stellensuchende weniger Kosten mit sich als bisher erwartet.
Valentina Sontheim absolviert ein Masterstudium an der Universität St. Gallen. Mit der Initiative «Next Generation» ermutigt das Wirtschaftspolitische Zentrum der Universität St. Gallen ihre Nachwuchstalente, die Öffentlichkeit über Erkenntnisse der Wissenschaft zu informieren. Die besten Studierenden fassen wichtige Ergebnisse ausgewählter Publikationen in Fachzeitschriften zusammen.