Meinen ersten Kontakt mit Shanzhai hatte ich vor etwa sieben Jahren, als ich spontan online für eine handvoll Dollar ein „iPhone mini“ bestellt habe. Nicht, dass Apple jemals eine Miniaturausgabe seines Smartphones im Angebot hatte, und nicht, dass ich ein neues Handy gebraucht hätte. Es war ein Jux: Wer konnte sonst schon ein solches Gerät vorweisen?
Bekommen habe ich einige Wochen später in einem Paket, abgeschickt in Shanghai, ein Smartphone, das eigentlich gar keines war: Die Hardware und auch die Benutzeroberfläche sahen zwar aus wie ein iPhone, die Software war aber mehr als lausig. Die Menüeinträge wurden offensichtlich mit Google Translate aus dem Chinesischen übersetzt, mit dem Safari-Logo war kein Browser, sondern ein Spiel verknüpft, und allgemein war das Ding sehr langsam. Anderseits wurde ein Ersatzakku kostenlos mitgeliefert, das Handy konnte problemlos mit zwei SIM-Karten gleichzeitig umgehen, und auch auf das Display gezeichnete chinesische Buchstaben erkannte das Gerät problemlos – es brachte also Features mit, die das Original von Apple teilweise bis heute nicht unterstützt.
Ursprung in der Produktepiraterie
Shanzhai (山寨) bedeutet wörtlich übersetzt Bergdorf, hat sich in China aber als Begriff für Produktpiraterie eingebürgert (weil die Fakes in Fabriken abseits der Regulation hergestellt wurden). Zumindest für Elektronik – Handys, Tablets, aber auch Laptops und Spielkonsolen – ist das südchinesische Shenzhen in der Provinz Guangzhou. Vor 35 Jahren war Shenzhen noch ein kleines Fischerdörfchen auf dem chinesischen Festland unmittelbar nördich von Hong Kong, seit die Stadt von der Regierung zur ersten Sonderwirtschaftszone ernannt wurde, wächst sie unaufhaltsam – mittlerweile ist sie deutlich grösser als ihr berühmter Nachbar, und Hong Kong wurde zum Vorort degradiert.
In den Fabriken in und um Shenzhen werden nicht nur die weltweit meisten Elektroprodukte hergestellt, sondern es entstand auch eine sehr aktive Shanzhai-Szene. Fake-Handys, wie mein iPhone Mini. Shanzhai war aber schon immer sehr innovativ: Einen iPhone-Ripoff mit Mickey-Mouse-Ohren und integriertem Feuerzeug? Kein Problem. Darüber kann man lachen, aber es zeigt exemplarisch auf, wie die Shanzhai-Szene tickt: In sehr schnellem Rhythmus werden auch die verrücktesten Feature-Ideen mit Vorbildern kombiniert. So habe ich beispielsweise bereits 2009 auf dem Wholesale-Markt in China eine Digitaluhr mit integriertem Handy gekauft, Apple hat seine Smartwatch erst 2014 gelauncht. Shanzhai-Produkte werden heute nicht nur in der Consumer Electronics-Branche hergestellt, selbst Shanzhai-Elektroautos sind erhältlich. Unabhängig vom Produkt ist das Prinzip stets dasselbe: Wird das hergestellte Produkt auf dem Markt angenommen, wird in diese Richtung weiterentwickelt, verbessert, neue Features entworfen. Falls nicht, wird an anderen Fronten experimentiert.
Extrem schnelle Produkt-Entwicklungs-Zyklen
Mit rasantem Tempo haben sich die Shanzhai-Firmen professionalisiert. Bauten sie vor wenigen Jahren noch miserable Knock-Off-Handys mit einem schlechten chinesischen Betriebssystem (NucleusOS), sind die meisten Handys und Tablets heute von ziemlich hoher Qualität zu sehr günstigen Preisen und basieren auf Android. Nicht selten ist eine Shanzhai-Hersteller der weltweit erste, der die neuste Android-Version bereits ausliefert – noch vor grossen Playern wie Samsung. Wie schaffen die Shanzhai-Produzenten das? Fünf Punkte sind zentral:
Standardisierte Komponenten: Die meisten Firmen nutzen die modulare Plattform des taiwanesischen Chip-Herstellers MediaTek. Je nach gewählter Plattform werden Dual-SIM-LTE (in China aufgrund des nationalen Roamings wichtig), hochauflösende Touchscreens und Kameras unterstützt. Für die günstigen Bauteile liefert MediaTek die nötigen Treiber mit. Vereinfacht gesagt kombiniert der Endproduzent lediglich verschiedene Komponenten, designed ein Gehäuse und modifiziert die Software. Dadurch kann der Entwicklungsprozess von der ersten Idee bis zum Start der Serienproduktion auf wenige Tage reduziert werden. Deshalb können Fakes von beispielsweise Samsung-Handys bereits kurz nach der Präsentation des Originals auf dem Schwarzmarkt gekauft werden, während das Vorbild noch gar nicht im Handel erhältlich ist. Bei den professionelleren Shanzhai-Produzenten ist allerdings zu beobachten, dass sich die Entwicklungszyklen zur Sicherung der Qualität verlängern – dennoch sind sie immer noch massiv schneller als Apple oder Samsung.
Halblegale Produktion: Viele der Shanzhai-Fabriken besitzen keine Lizenzen für die Technologien, die sie nutzen. Häufig werden die Lizenzkosten für die 3G- und 4G-Module nicht bezahlt und erfundene IMEI-Nummern verwendet (ganz abgesehen von Strahlenwerten…). Dennoch sind die Geräte voll funktionsfähig. Vielleicht genügen auch die Fabriken selbst nicht den Standards von westlichen Firmen; das kann ich allerdings nicht abschliessend beurteilen, da ich noch keine Gelegenheit hatte, eine Fabrik persönlich zu besuchen. Videos auf Youtube erwecken diesen Eindruck. Zudem scheint die Ausschussware relativ hoch zu sein, deshalb führen die meisten Shops für westliche Kunden noch eigene Qualitätskontrollen durch.
Wholesale-Vertrieb: In der Regel tritt der Hersteller des Handys oder Tablets nicht als Verkäufer für Endkunden auf, sondern setzt auf (für uns undurchsichtige) Geflechte von chinesischen Geschäftsleuten. An der Huaqiangbei Road in Shenzhen gibt es mehrere riesige Wholesale-Märkte, in denen alle möglichen Geräte und Zubehör in kleiner und grossen Stückzahl gekauft werden kann. Geliefert wird von Kurieren direkt ins Büro des Kunden, der die Geräte meistens auch weiterverkauft. Da bis auf Websites auf Marketing weitgehend verzichtet wird, können die Kosten sehr tief gehalten werden. In diesen Märkten, in denen hauptsächlich gefeilscht wird, reihen sich Mini-Wholesale-Shops eng nebeneinander, häufig wird dort auf Kundenwunsch auch die neuste Firmware geflasht oder sogar Custom-Devices bestellt werden. Seit einigen Jahren versenden professionelle Online-Shops Devices direkt an Endkunden in aller Welt, einige davon haben sich auf den deutschsprachigen Markt konzentriert.
Low-End: Die meisten Shanzhai-Fabriken produzieren ihre Geräte für Mainland China, die professionelleren Brands aber auch für Schwellenmärkte wie Indien. 2008 haben findige Shanzhai-Produzenten beispielsweise ein Obama-Handy für den kenianischen Markt hergestellt. Der Fokus auf preissensitive Low-End-Märkte macht natürlich Sinn; in Kombination mit den tiefen Produktionskosten, fehlendem Marketing, innovativen Vertriebswegen und der grossen Nachfrage nach Smartphones können hohe Margen erzielt werden. Nur äusserst professionelle Hersteller wie Siswoo stellen Geräte für Europa her (Siswoo scheint erst seit etwa anderthalb Jahren zu existieren, dennoch ist die Firma seit einiger Zeit bereits Partner von T-Mobile für Low-Budget-Phones).
Kooperation mit App-Herstellern: Chinesische Smartphones sind meistens voller Bloatware, also vorinstallierten Apps. Da diese Apps in der Regel chinesisch sind, kann man hier damit sehr wenig anfangen. Während einige der Apps sinnvoll sind (häufig werden QQ – ein chinesischer Messenger – und Weixin – hier bekannt als WeChat, also das chinesische WhatsApp – vorinstalliert), wird teilweise auch zweifelhafte Software oder im schlimmsten Fall sogar Viren mitgeliefert. Der Hersteller profitiert von Revenue Sharing mit den App-Herstellern. Ein Modell, das beispielsweise auch Samsung bei vorinstallierten Apps wie MyTaxi nutzt, die Chinesen haben diese Methode allerdings „perfektioniert“.
Basis für Firmen wie Xiaomi
Diese Shanzhai-Strategien konnten erfolgreiche chinesische Startups wie OnePlus oder Xiaomi, das „Apple Chinas“, übernehmen und perfektionieren. Das in Beijing beheimatete Startup Xiaomi hat sich weltweit einen Namen gemacht für ihre qualitativ äusserst hochwertigen, aber sehr preisgünstigen Geräte. Zudem bietet Xiaomi für ihre Handys wöchentliche Updates an; auch jahrealte Geräte werden noch mit neuen Features und Sicherheitsupdates beliefert. Grosse Marken wie Samsung sind hingegen dafür bekannt, dass sie eine miserable Update-Politik verfolgen.
Die Kombination aus hervorragendem Preis-Leistungs-Verhältnis, gutem Support und laufend wachsender Community auch ausserhalb Chinas machen diese Hersteller für klassische Elektronik-Produzenten so gefährlich. Aus dem Nichts tauchen Player wie Siswoo auf und liefern gute Geräte in einer Geschwindigkeit, mit der auch innovative Brands nicht mithalten können.
Startups können von Shanzhai lernen, wie innert kürzester Zeit hochwertige Prototypen und serientaugliche Hardware hergestellt werden kann, und gleichzeitig sehr schnell Feedback von echten Konsumenten auf dem Markt eingeholt wird. Wie aus Lean Startup bekannt, gibt es keinen besseren Market Proof als zahlende Konsumenten. Und genau darauf ist Shanzhai optimiert: Möglichst schnell zu wachsen und grösstmöglichste Umsätze zu generieren.