Warteschlangen, Selfie-Verbot und Zutrittsbeschränkungen: Als Pipilotti Rist im vergangenen Winter das Museum of Contemporary Art in Sydney in ein Zauberreich verwandelte, war der Erfolg überwältigend. Die Wände wummerten, und die Räume wogten nur so unter Rists delirischen Videoprojektionen, Menschenmassen schoben sich durch den flackernden Lichtregen namens «Pixelwald Motherboard». Die Retrospektive der 56-jährigen Schweizer Videokünstlerin bescherte dem Museum seinen bisher grössten Zuschauererfolg.
Drei Dinge bestätigt die Schweizer Blockbuster-Schau am anderen Ende der Welt: Rist, aus dem St. Galler Rheintal, die seit den neunziger Jahren als Videokunstpionierin Furore macht, betreut durch die weltweit exzellent vernetzte Galerie Hauser & Wirth, schafft den Spagat zwischen Popularität und Kritiker-Erfolg wie kein anderer Gegenwartskünstler.
Ihre optisch opulente, sinnliche Kunst, die sich auf lustvolle Art mit Körperbildern und Geschlechterrollen auseinandersetzt, bedient Bedürfnisse nach sinnlichen Erlebnissen in einer als immer weniger haptisch empfundenen Welt. Ihr Erfolg wird auch mit dem 1. Platz im diesjährigen BILANZ-Künstler-Rating untermauert. Zweiter Punkt: Schweizer besetzen längst die besten Plätze im internationalen Kunstkarussell. Drittens: Gegenwartskunst ist populär wie nie zuvor.
Das Leitmedium unserer Zeit
Entertainment für ein breites Publikum, Inspirationsquelle für Zeitdiagnostiker, Heimdekoration und Asset für sammelnde Millionäre: Kunst ist das Leitmedium unserer Zeit par excellence. Prada, Trussardi, LVMH – kein internationaler Modebrand, der nicht eine Kunstsammlung oder eine Stiftung für Gegenwartskunst sein Eigen nennen würde.
Die Frühlings-/Sommer-Kampagne von Gucci führt gar in das visuell überreizte Reich eines leicht durchgeknallten Kurators in der imaginären «Gucci Gallery». Social Media wie Instagram, Internetplattformen wie Artnet.com und Onlineauktionen haben Visibilität und Wirkungsgrad noch verstärkt.
Um zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr, auf 63,7 Milliarden Dollar, ist das Verkaufsvolumen im globalen Kunstmarkt 2017 laut dem «Art Market Report» von UBS und Art Basel angeschwollen. Nach zwei Jahren abnehmender Verkäufe zeigt die Kurve wieder nach oben. Nachkriegs- und Gegenwartskunst ist mit 48 Prozent der gewichtigste Sektor, ein Gebiet, das viele High Net Worth Individuals zu ihrem Hobby erklärt haben, wie eine Studie der UBS in den USA belegt.
Auktionshäuser registrieren bei Gegenwartskunst-Auktionen Bieter aus 47 Nationen, die Ausweitung der Nachfrage befeuert den Markt.Früher wurde Gegenwartskunst als sperrig, schwierig, zerebral wahrgenommen; ihre Protagonisten waren Antihelden, die Avantgarde schwamm gegen den Strom. Heute wird sie kommerziell umarmt wie nie zuvor.
Das BILANZ-Künstler-Rating, das traditionell anlässlich der Art Basel stattfindet, soll Orientierung bieten. Zum 25. Mal gibt eine von kompetenten Fachleuten besetzte Jury ihr Urteil ab. Insgesamt 53 Museumsleute, Kritiker und Kuratoren urteilen nach Substanz und Relevanz, nicht nach Marktwert.
Konservative Kunstwelt
Zwei Befunde gilt es zu machen. Die diesjährige BILANZ-Künstlerliste ist erstens ein Beleg dafür, dass die Kunstwelt konservativer geworden ist. Die Fluktuationsrate im oberen Drittel ist äusserst gering, und die Positionen von Künstlern, die ihr Werk über eine lange Zeitspanne hinweg entwickelt und an Ausstellungen gezeigt haben, wurden bestätigt. Wo früher schnelle Highflyers in aller Munde waren, ist die Rückbesinnung auf durch eine langjährige, solide Karriere untermauerte Positionen zu verzeichnen.
Seit vielen Jahren unter den Top Ten sind – neben Pipilotti Rist und dem Explosionskünstler Roman Signer (Rang 2, Vorjahr: 2) auch der Meister der politischen Bricolage, Thomas Hirschhorn (Rang 3, Vorjahr: 4), der Kunstdandy John Armleder (Rang 4, Vorjahr: 1) und Experimentalkünstler Christian Marclay (Rang 5, Vorjahr: 7). Aber auch Urs Fischer (Rang 6, Vorjahr: 5), ein Spezialist für XL-Skulptur, sowie der Kunstschamane Ugo Rondinone (Rang 7, Vorjahr: 8) gehören zu den etablierten Werten.
Frauen erobern die Künstlerlisten
Zweiter Hauptbefund: Die mittlere Generation von Frauen, einst wegen ihrer unorthodoxen Strategien als Youngsters der Schweizer Kunstszene gefeiert, konsolidieren ihre Karriere und bekleiden endgültig vordere Plätze. Das bestätigt einen Trend, den auch der «Capital»-Kunstkompass diagnostiziert hat: Frauen erobern die Künstlerlisten.
Pipilotti Rist und Sylvie Fleury, die einstigen It-Girls der Schweizer Kunstszene, sind heute Altmeisterinnen der Gegenwartskunst, die ihren Ruhm zwischen New York, Sydney und Los Angeles bestätigt sehen. Künstlerinnen wie Claudia Comte (Rang 11, Vorjahr: 9) und Mai-Thu Perret (Rang 13, Vorjahr: 14) rücken nach.
Das multidisziplinäre, an der Arts-and-Crafts-Bewegung orientierte Werk der 42-jährigen Genfer Künstlerin Mai-Thu Perret etwa hinterfragt Gender-Rollen – und könnte damit den Zeitgeist nicht besser treffen. Es kreist um eine utopische Frauengemeinschaft «Crystal Frontier» in New Mexico, deren Mitglieder das patriarchale Umfeld einer Stadt verlassen haben, um ein weibliches Gegenreich zu gründen. Objekte, Skulpturen und Installationen, für die Perret Materialien wie Keramik verwendet, die traditionell als weiblich und dekorativ gelten, künden davon.
«Meine Arbeit dreht sich unter anderem darum, wie Gender-Erwartungen unsere Wahrnehmung und unsere Vorstellung von Kunst strukturieren», sagt sie. Derzeit sind Arbeiten von ihr im Met Breuer in New York in der Ausstellung «Like Life» zu sehen; ein Ritterschlag ist die Auszeichnung mit dem Paul-Boesch-Kunstpreis. Für den neuen Hauptsitz der Swiss Re konnte Perret zudem ein Werk realisieren, und Arbeiten von ihr haben auch Eingang gefunden in namhafte Museen wie das Mamco Genf, das Kunstmuseum Bern, das Hessel Museum am Bard College in den USA oder die angesehene Marciano Art Foundation (die auf dem Vermögen des Modelabels Guess gründet) in Los Angeles.
Grande Dame der hiesigen Kunstszene
Die 57-jährige Genferin Sylvie Fleury – ihr wird heuer der prestigiöse Prix Meret Oppenheim verliehen – kann man als Grande Dame der hiesigen Kunstszene (Rang 10, Vorjahr: 19) bezeichnen. Auf der Klaviatur von Gender spielend, setzt sie sich lustvoll mit Konsumkultur, Beauty und Mode auseinander. «Sylvie Fleury ist eine wichtige weibliche Identifikationsfigur für jüngere Generationen», sagt ihre Galeristin Marina Olsen von Karma International mit Galerien in Zürich und Los Angeles. «Sie verknüpft Themen der Kunstgeschichte, zum Beispiel die typisch männlich konnotierte monochrome Malerei, mit weiblich assoziierten Farben und Materialien.»
Von den Jüngeren etabliert sich allmählich die 35-jährige Westschweizer Bildhauerin Claudia Comte in der Kunstszene; sie feierte soeben mit ihrer Präsentation in der angesagten König Galerie am Berliner Gallery Weekend Erfolge. Dort hat sie eine im brutalistischen Stil erbaute Kirche mit behandelten Baumstämmen und ihren zwischen Archaik und Cartoons oszilliernden Skulpturen aus Holz, Bronze und Marmor in einen Märchenwald verwandelt. Eigenhändig mit der Kettensäge oder in computergesteuerten 3-D-Scanning- und Fräsprozessen geformt, oder vom Giesser oder Steinmetz produziert, deklinieren ihre Werke alle Arbeitsprozesse vom soliden Handwerk bis zum digitalen Rendering durch.
«Claudia gelingt es, mit dem Rückgriff auf die Moderne und der Verbindung mit dem Cartoonhaften der Gegenwart den Skulpturenbegriff zu erweitern», sagt ihr Galerist Johann König. «Sie hat eine solide Entwicklung hinter sich und ist in ihrem Medium international führend.» Namhafte Museen wie das MoMA in New York und die Marciano Art Foundation griffen zu, auch das Kunstmuseum Luzern und das Haus Konstruktiv in Zürich, dazu Banken wie Julius Bär, UBS und Credit Suisse. Sammler, darunter Francesca von Habsburg und Leonardo DiCaprio, reissen sich um ihre Werke.
Rasante Preisentwicklung
Interessant wird es, wenn man die Schweizer im Kontext der Preisspirale der letzten Jahre betrachtet. Zwar haben Preise der Topkünstler, analog zum Kunstboom seit zwei Dekaden, eine ähnlich rasante Entwicklung wie ihre Kollegen zwischen London, New York und Tokio durchgemacht. Lag etwa die Preisspanne für Werke von Pipilotti Rist im Jahr 2000 bei zwischen 5000 und 500 000 Franken, können heute Installationen bis zu einer Million Franken kosten.
Bei Roman Signer sind die Preise im selben Zeitraum von 2000 bis 80 000 auf 3000 bis 250 000 Franken geklettert und beim Drittplatzierten, Thomas Hirschhorn, von rund 6000 bis 200 000 auf 18 000 bis 450 000 Franken. Bei Topkünstlern haben sich die Preise generell verdoppelt, wenn nicht mehr.
Mit Urs Fischer und Franz Gertsch haben zwei lebende Schweizer an Auktionen die Millionengrenze durchbrochen. 2011 erzielte Fischers XL-Skulptur «Lamp Bear» bei Christie’s den Preis von 6,8 Millionen Dollar. «Urs Fischer ist unser Jeff Koons», sagt Caroline Lang, Chairman of Sotheby’s Switzerland. «Er ist klar der bestbezahlte und bekannteste Schweizer Künstler auf dem Auktionsmarkt, vielleicht auch weil er nach Amerika gezogen ist und die Gagosian Gallery ihn international vertritt.»
Auch Franz Gertsch (Rang 31; Vorjahr: 32) ist ein globaler Gegenwartsklassiker. Sein hyperrealistisches Gemälde «Luciano II» wechselte 2017 bei Sotheby’s für 3,4 Millionen Dollar den Besitzer – Rekord für den 88-jährigen Berner, der 1972 den Durchbruch an der Documenta 5 in Kassel feiern konnte.
Im Schnitt aber erscheint Schweizer Kunst im internationalen Vergleich eher unterbewertet. «Schweizer Künstler gehören generell nicht unbedingt zu den ‹Highflyern› an den internationalen Auktionen», sagt Jutta Nixdorf, Managing Director von Christie’s Zürich. Mit ihnen wird nicht spekuliert, es gibt keinen Hype und keine raschen Blasen.
Es gibt noch Schnäppchen!
Allerdings spiegelt der Marktwert nicht unbedingt den Erfolg des Künstlers. Auf die kontinuierliche Bestätigung durch Ausstellungen in Museen und Kunsthallen kommt es an. Wenn keine Topwerke auf Auktionen zu Spitzenpreisen versteigert werden, spricht dies sogar eher für ein besonders loyales Verhältnis von Sammlern zu Künstlern oder deren Galerien, die Werke zurückkaufen, wenn sich ein Sammler davon trennen will. So sind von Pipilotti Rist meist nur Videostills zu moderaten Preisen zu haben; grössere Werke sind nicht im Umlauf.
Von den beiden Topkünstlern Olivier Mosset (Rang 9, Vorjahr 6) und John Armleder wurden Topwerke bis vor kurzem zu vergleichsweise moderaten Preisen zu haben waren. Von Mosset waren Werke im Jahr 2000 schon für 15 000 bis 60 000 Dollar auf Auktionen erhältlich; in Galerien kosten sie heute bis zu 250 000. Sein Auktionsrekord, 140 000 Dollar, ist für einen Künstler seiner Güte vergleichsweise geradezu günstig.
Dasselbe gilt für John Armleder: An Auktionen übertraf er bis vor kürzerem nie die Marke von 70 000 Dollar, bis zwei Werke bei Sotheby’s für über 100 000 Dollar und bei Christie’s für 220 000 Dollar versteigert wurden. «Mosset und Armleder gehören immer noch zum Insidermarkt», so Caroline Lang von Sotheby’s. «Sie sind Künstler, die von ihren ‹Peers› weltweit verehrt werden und diese auch beeinflusst haben.» Hier seien Wertzuwächse zu erwarten: «Das sind tolle Künstler, die sich bereits ihren Stellenwert in der Kunstgeschichte verdient haben.»
Frauen erfahren weniger museale Weihen
Noch immer haben jedoch Künstler, wenn sie weiblich sind, weniger Marktchancen und erfahren weniger museale Weihen: Unter den 25 teuersten Künstlern an Auktionen waren lediglich zwei Frauen (Agnes Martin und Yayoi Kusama). Gemäss einer Studie schaffen 15 Prozent weniger Frauen den Sprung von der aufstrebenden Künstlerin zur etablierten, also vom Primär- in den Sekundärmarkt. «Manche Sammler sehen die vergleichsweise günstigeren Preise für Kunst von Künstlerinnen heute als eine gute Gelegenheit zum Kauf und interessieren sich darum speziell für weibliche Künstler», sagt Caroline Lang.
Sylvie Fleury gehört unbestritten zu ihnen. Eine Dreiergruppe ihrer in irisierenden Lack getauchten Pilze erzielten im Mai 2017 bei Christie’s 162 500 Dollar. Sie übertrafen ihren Schätzpreis von 70000 bis 100 000 Dollar bei weitem.