Über Stock und Stein radeln sei Viktors Passionen gewesen, erinnert sich ein Schulkollege Vekselbergs, der mit ihm im Städtchen Drohobytsch – in der heutigen Ukraine – die Schulbank drückte. Hatte Vekselberg seine Hausaufgaben erledigt, schwang er sich aufs Velo und pedalte durch den nahen Wald.
Erst später, Vekselberg ist 18 Jahre alt und studiert in Moskau, verrät ihm der Vater ein Geheimnis: Im Wald seiner Jugend liegen seine Verwandten.
Im März 1942 treiben SS-Truppen die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner im Ghetto von Drohobytsch zusammen, zünden ihre Häuser an und karren sie in den Wald neben Vekselbergs Haus. Dort erschiessen sie seine Grosseltern, Tanten, Onkel und Cousins, anschliessend werden sie in Massengräbern verscharrt. Beim «Massaker von Bronica», wie es in Geschichtsbüchern genannt wird, werden innert drei Tagen 12’000 Jüdinnen und Juden ermordet. Unter ihnen 17 engste Verwandte Vekselbergs.
Der Vater verschweigt das Schicksal der Familie
Sein Vater Felix Solomonovitch überlebte. Er kämpft als Soldat der Roten Armee an der Front und wird verwundet; im Militärspital bei Stalingrad erfährt der 21-Jährige vom Schicksal seiner Familie. Dass Vekselbergs Vater, der täglich die Synagoge besucht, ihm als Sohn dieses dunkle Kapitel der Familiengeschichte jahrelang verschwiegen hat, verstehe er nie, sagen seine Freunde. War es Trauer, Scham, das Schützen der Familie, die den Vater zum Schweigen brachte?
Jahre später, Vekselberg hat mittlerweile ein kleines Vermögen verdient, lässt er eine schwarze Marmorplatte an einem Gedenkstein im Wald anbringen. Auf Ukrainisch steht: «Hier ruhen 12’000 Juden, umgebracht von den Nazis. Im Andenken an meine geliebte Familie – Viktor Felixowitsch Vekselberg.» Den kilometerlangen Waldweg von der Hauptstrasse zu den Massengräbern lässt er mit rotem Splitt auslegen – die Steine sollen an das Blut der Opfer des Holocaust erinnern.
Der Ort des Grauens ist heute vergessen, wie ein Besuch im Wald von Bronica in der Ukraine zeigt. Der Weg zu den Massengräbern ist versumpft, Baumstämme versperren den Weg. Der Taxifahrer aus Drohobytsch, ein Soziologiestudent, hat von den Gräueltaten der Nazis in seiner Stadt noch nie gehört, auch der Name Vekselberg sei ihm fremd, sagt er am Steuer seines klapprigen Opel Kombi. Hingegen wisse er, wer den Eurovision Song Contest 2022 gewann: Kalush Orchestra, eine Hiphop-Gruppe aus der Ukraine. Sagts und schiebt eine CD ein - «Stefania», der Siegersong scheppert aus den Lautsprechern.
Weggefährten erinnern sich
2013 lässt Vekselberg auf Wunsch seines Vaters die verfallene Synagoge von Drohobytsch restaurieren; sie wurde in der Nazizeit geschlossen und in der Sowjetära als Abfalldeponie benutzt. Zur Wiedereinweihung des historischen Gebetshauses wird der Stifter aus Moskau aber nicht eingeladen, auch die Broschüre zur Historie der Synagoge, die beim Eingang auf einem Holztisch aufliegt, verschweigt seinen Namen. Es sind komplizierte Verhältnisse im Städtchen in der Ukraine, und sie sind mit dem Einmarsch der Russen noch komplizierter geworden: 100 Meter von der Synagoge steht das Denkmal von Stepan Bandera, ein ukrainischer Nationalist und Faschist, der im 2. Weltkrieg mit den brandschatzenden Nazis kooperierte. Und wenn heute die Sirenen heulen, weil russische Raketen im Anflug sind, bringen sich die Ukrainer im Keller der Synagoge in Deckung, die einer aus Russland renovieren liess.
Gesprächiger als der junge Taxifahrer sind ältere Bewohnerinnen und Bewohner des Städtchens, die sich vor dem Mittagessen mit schweren Einkaufstüten vor der herausgeputzten Synagoge zum Schwatz treffen. Viele erinnern sich an Viktor, darunter sein Gruppenführer aus der kommunistischen Organisation «Junge Pioniere», Kollegen aus der Primarschule, Mitglieder der jüdischen Gemeinde. In bester Erinnerung ist vielen das Fest zu Vekselbergs fünfzigstem Geburtstag, den er 2007 in seiner alten Heimat feierte und unter Applaus der Geladenen bewies, dass er der elegante Tänzer von einst geblieben ist. Einer, der bei der Geburtstagsfeier dabei war, fragt beim Abschied den Reporter aus der Schweiz: «Viktor soll ein Freund Putins sein?» Die Antwort gibt er gleich selber: «Das wäre mir neu.»
Die Runde vor der Synagoge verstummt abrupt und löst sich schnell auf. Da hat einer etwas ausgesprochen, was sich nicht geziemt. Offen Sympathien auszudrücken für Vekselberg, der offiziell als Putin-Vertrauter gilt, ist in der Ukraine heute verpönt. Besser schweigt man – oder man taucht unter und bringt sich in Sicherheit. Wie Vekselbergs Schwester, die bis zum Angriff in Drohobytsch lebte und bis zur Pensionierung im Büro einer lokalen Ölförderfirma arbeitete. Vor ein paar Monaten sei sie bei Nacht und Nebel abgereist, erzählt einer. Wohin sie gegangen ist, weiss niemand. Einer sagt: Nach Moskau. Ein anderer: In die USA.
Opfer von Antisemitismus in der Sowjetunion
Viktor, erzählt ein Schulkollege beim Rundgang durch die Stadt, wollte stets der Erste sein, beim Tanzen, beim Tischtennis, in Mathe ohnehin. Als Bester seines Jahrgangs schliesst er die Primarschule ab, doch die traditionelle Feier, an dem die Klügsten mit einer Goldmedaille ausgezeichnet werden, wird in seinem Jahrgang gestrichen. Wegen Viktors jüdischer Herkunft, erinnert sich der Schulkollege. Am Tag der abgesagten Ehrung, erzählt er weiter, habe er Viktor sturzbetrunken an einer Strassenkreuzung aufgelesen und nach Hause gebracht. Dass er den Preis seiner jüdischen Herkunft wegen nicht überreicht bekam, habe ihn tief getroffen. Später erzählt Vekselberg im Magazin «Forbes Russia», mit der Absage der Feier habe er realisiert, dass er 50 Prozent jüdisches Blut in sich habe; das habe in ihm das Interesse an der jüdischen Kultur geweckt.
Und dieses Interesse pflegt der Unternehmer bis heute: Im Jahr 2013, ein Jahr vor Putins Angriff auf die Krim, gründet Vekselberg in Moskau das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz. Es ist ein Ort der Versöhnung und des Dialogs. Der Stiftungsrat ist interreligiös besetzt: mit den Unternehmern Lenard Blavatnik und Roman Abramowitsch, dazu Berel Lazar, Russlands Oberrabbiner, David René de Rothschild, Präsident der Rothschild-Gruppe, Lord Browne, ehemaliger Präsident von BP, Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, ausserdem der Erzbischof und der Obermufti Russlands. Zur Eröffnung des Zentrums in Moskau begrüsst Vekselberg Israels Staatspräsident Shimon Peres.
Seine exzellenten Schulnoten hätten dem jungen Vekselberg eigentlich den prüfungsfreien Zugang zur besten Hochschule der Sowjetunion, der Lomonossov-Universität in Moskau, garantiert. Doch er wird abgelehnt, seines jüdischen Nachnamens wegen. Die nächste Diskriminierung zwingt ihn, sich an der Hochschule für Eisenbahn und Verkehr einzuschreiben, die zum Sammelbecken der jüdischen Intelligenzija des Landes wird. Im Schulregister wird festgehalten, dass sein Vater Jude sei, seine Mutter Ukrainerin und er Russe. An der Uni lernt er seine Frau kennen und Dutzende jüdische Kommilitonen, die später nach Israel oder in die USA auswandern. Einer davon ist Lenard «Len» Blavatnik, dessen Familie bald nach Brooklyn zieht. Er studiert an Eliteunis, wird erfolgreicher Firmengründer und bringt es unter die fünfzig Reichsten Amerikas.
Der Weckruf des Vaters
Im Gegensatz zu Blavatnik ist Vekselberg ein Spätzünder. Nach der Dissertation in Mathematik lebt er mit seiner Frau Marina in einem Einzelzimmer auf dem Campus. Dort haust er auch, als er Leiter eines staatlichen Forschungslabors der Erdölindustrie wird; um den knappen Lohn aufzubessern, arbeitet er abends als Hilfskraft in einer Metzgerei. Erst mit der Geburt von Tochter Irina wechselt er in eine 23-Quadratmeter-Mietwohnung in Moskau, in die auch seine Schwiegereltern einziehen. Es ist eng, feucht und kalt.
Diese bescheidenen Lebensverhältnisse wecken Unverständnis beim Vater. Dieser reist zum 32. Geburtstag an und staunt, dass der Filius, immerhin Mathematiker und Computerspezialist, noch immer in einer Wohnung lebt, die nur einen Viertel so gross ist wie die Wohnung in Drohobytsch, in der er aufwuchs.
Die väterliche Kritik muss ein Weckruf sein. Nach dem Besuch, erzählt Vekselberg später einer russischen Zeitung, habe er entschieden, Unternehmer zu werden. Sein Antrieb: «Ich wollte eine eigene Wohnung, ein Auto und eine Datscha.»