Das Handy über Nacht vermieten und an einem Super-Rechner mitarbeiten lassen? Das wird schon bald Realität sein, meint eine US-Zukunftsforscherin. Und das ist längst nicht alles. Diese fünf Trends könnten in wenigen Jahren unseren Alltag bestimmen.

Es ist eine Idee, mit der sich Geld im Schlaf verdienen liesse, wortwörtlich. Am Abend, kurz vor dem Zubettgehen, öffnet man auf seinem Handy eine App, die anderen Menschen den Zugriff erlaubt. Menschen, die aus der Ferne die Rechenkraft des Geräts nutzen wollen, während es bei uns unbeachtet auf dem Nachttisch liegt – und die bereit sind, dafür zu bezahlen.

 

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AUSTIN, TEXAS - MARCH 11: Amy Webb, founder of the Future Today Institute attends the Inc. Founders House on March 11, 2019 in Austin, Texas. (Photo by Rick Kern/Getty Images for Inc)

Amy Webb: Die US-Zukunftsforscherin betreibt die Denkfabrik «Future Today Institute».

Quelle: 2018

Handy und Laptops werden geteilt

Die Zeit, die wir nicht vor unseren Bildschirmen verbringen, als lukrative Ressource? Amy Webb, eine der bekanntesten Zukunftsforscherinnen Amerikas, sieht es so kommen. «Schon bald wird es eine Art Airbnb für Computer geben», sagt Webb. So wie viele Menschen heute ihre Wohnungen teilen, meint die Expertin, teilen sie in wenigen Jahren auch ihre Handys, Tablets und Laptops. Experten sprechen von einem «verteilten System»: Viele unabhängige Geräte werden zusammengeschlossen und arbeiten dann wie ein einziger Super-Rechner.

Webb lehrt an der New York University und ist Chefin des Instituts Future Today. Auf dem Technikfestival South by Southwest in Austin (Texas) hat Webb eine grosse Untersuchung über das Leben von morgen vorgestellt. Darin geht es nicht nur um die offensichtlichen Themen der Zukunft, um schlaue Maschinen, digitale Währungen und virtuelle Realitäten. Webb zählt auch eine Reihe Trends auf, über die bisher weniger gesprochen wird – wie das verteilte System.

Das geteilte Handy

Mit verteilten Systemen, glaubt Webb, erreichen wir die nächste Stufe der Sharing Economy – jener Wirtschaft, in der die Menschen Waren lieber teilen, als sie zu besitzen. Die Vision: Firmen, Universitäten und Behörden werden in Zukunft immer kompliziertere Berechnungen anstellen können, ohne ihre Computer aufrüsten zu müssen. Sie nutzen einfach freie Kapazitäten auf den Geräten von Privatleuten.

Wer sein Handy für eine gewisse Zeit nicht braucht, so die Idee, kann die Prozessorleistung vermieten. Das Auf und Ab der globalen Finanzmärkte, die Ausbreitung von Krankheiten, Veränderungen des Klimas – all das soll schon bald präziser vorhergesagt werden können als bisher, und zwar mithilfe der Milliarden Handys, Laptops und Tablets, die es auf der Welt gibt. «Es handelt sich um eine gigantische Rechenpower, die derzeit schlummert», sagt Webb.

In der Vergangenheit wurde schon gezeigt, dass verteilte Systeme möglich sind. Das berühmte Seti-Projekt, das sich mit der Suche nach Ausserirdischen befasst, stützt sich auf genau dieses Prinzip. Nicht Super-Computer der Nasa werten die Daten aus, die Radioteleskope in den Weiten des Universums gesammelt haben, sondern ganz normale PCs.

Das zersplitterte Internet

«Cyber-Balkanization» heisst ein Phänomen, das wir Amy Webb zufolge immer häufiger beobachten werden. Das Internet werde zersplittern, meint sie, werde in viele kleine Teile zerfallen – ähnlich wie einst der Balkan. Statt eines globalen Netzes, in dem alle Informationen für alle Menschen zugänglich sind, gebe es in Zukunft mehrere Netze, von Region zu Region verschieden. Das Internet werde zum «Splinternet».

Manche Experten gehen noch einen Schritt weiter als Webb und sehen so etwas wie nationale Intranets aufkommen: voneinander abgeschirmte Netze, ein jedes mit seinen eigenen technischen Standards. Tatsächlich sind die Anfänge des «Splinternets» bereits zu sehen. China sperrte Google, Facebook und Twitter, die Türkei blockierte Wikipedia. Schon heute existieren also gewissermassen verschiedene Versionen des World Wide Web.

Der Blick unter die Haut

Gesichtserkennung gibt es schon länger. Facebook entwickelte vor fünf Jahren eine Software, die Personen auf Fotos mit einer Trefferquote von 97 Prozent identifiziert – und damit ungefähr so oft richtig liegt wie ein Mensch. Heute lassen sich per Gesichtserkennung zum Beispiel das iPhone X entsperren und der Elektro-SUV des deutsch-chinesischen Autoherstellers Byton öffnen. Aber in besonders sensiblen Bereichen, etwa bei Bankgeschäften, wird die Technologie bisher nicht genutzt. Das wird sich Webb zufolge bald ändern – auch dank einer neuen Erfindung.

In Zukunft, sagt die Forscherin, scannen die Systeme nicht länger äussere Merkmale des Gesichts, etwa die Form der Knochen oder die Farbe der Haut. Stattdessen schauen Infrarotkameras unter die Haut. Sie erkennen das Netz aus Blutgefässen, das zwischen Mund, Nase, Augen und Ohren verläuft. Es bildet bei jedem Menschen ein einzigartiges Muster – so wie ein Fingerabdruck. Durch solche Innovationen, meint Webb, wird die Gesichtserkennung ein neues Mass an Sicherheit erreichen und sich schnell ausbreiten.

Die Macht der Gedanken

Sogenannte Wearables sind schon bekannt: Mini-Computer, die ganz natürlich am Körper getragen werden wie ein Stück Schmuck. Der Markt boomt, bis Ende dieses Jahres werden Schätzungen zufolge weltweit 360 Millionen dieser Geräte in Benutzung sein. Aber die Wearables, zu denen etwa die Apple Watch zählt, seien nur der Anfang, sagt Amy Webb. Es deute sich nun die nächste Stufe der Evolution an: die Thinkables. Apparate und Programme, die sich mit Gedanken steuern lassen.

«So etwas ist nicht länger Science-Fiction», glaubt Webb. Tatsächlich hat zum Beispiel Neurable, ein Start-up aus Boston, ein einfaches Computerspiel entwickelt, das nicht per Joystick, Maus oder Touchscreen bedient wird – sondern mit den Wellen, die unser Gehirn aussendet. Auch Facebook investiert in die Technologie. Das Unternehmen arbeitet daran, Gedanken in Worte zu verwandeln. Gut möglich, dass wir unsere Nachrichten bald nicht mehr tippen oder diktieren, sondern mit der Kraft unserer Gedanken schreiben.

Die kleinen Wunder-Satelliten

Schon bald, glaubt Webb, werden nicht mehr in erster Linie einzelne grosse Satelliten die Erde umkreisen – sondern Schwärme aus Tausenden Mini-Satelliten. Faustgrosse Würfel, günstig in der Herstellung, aber extrem leistungsstark. «Sie werden jeden Zentimeter der Erde fotografieren», sagt Webb, «und das an jedem Tag des Jahres.»

Einige Mini-Satelliten sind bereits im Einsatz. Bauern analysieren mit ihrer Hilfe, in welchem Zustand sich das Getreide befindet. Supermarktketten schauen, wie viele Autos auf dem Parkplatz der Konkurrenz stehen – ein Indiz dafür, wie ausgelastet der Laden ist. Die fliegenden Würfel stehen offenbar vor dem Durchbruch. Webb zitiert in ihrer Untersuchung die US-Luftfahrtbehörde FAA, die für die kommenden Jahre eine «noch nie da gewesene Zahl» an Starts vorhersagt. Die Mini-Satelliten sollen dann auch überall auf der Erde, selbst in armen Regionen Afrikas, das Internet verfügbar machen. Oder man müsste wohl sagen: das «Splinternet».

Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel: «Für den Fingerabdruck der Zukunft schauen Kameras uns unter die Haut».